Er gilt in der Weinbranche als „Enfant Terrible” und wäre nach eigener Einschätzung in der DDR wohl im Gefängnis gelandet: Sebastian Georgi sagt, was er denkt – auch, wenn andere offensichtlich anderer Meinung sind. Das kann er sich leisten, denn er zählt zu Deutschlands besten Sommeliers. Seit mehr als zehn Jahren ist Georgi auch Gastronom: Nachdem der gebürtige Berliner zunächst mit „Georgi – Wein am Rhein” in Köln reüssierte, brachte er 2014 mit Partnern unter der Marke 485 Grad die echte neapolitanische Pizza mit exklusiven Belägen und begleitet von einem anspruchsvollen Wein-Repertoire ins Rheinland. Benannt wurde das Konzept nach der Temperatur des Ofens, in dem die Pizza in nur einer Minute gebacken wird. Für die Fizzz haben wir Sebastian Georgi im Frühjahr 2023 porträtiert: 

2018 wechselte Sebastian Georgi von Celsius zu Grad Fahrenheit und führt seither das Konzept in Düsseldorf unter den Label NineOFive alleine weiter. Neben bald zwei Restaurants in der nordrheinwestfälischen Landeshauptstadt gehören von Lizenzpartnern betriebene Standorte in München, Augsburg, Regensburg und Jena zum Netzwerk, ein weiterer in Wien ist in Planung. „Das Format funktioniert – angepasst an das jeweilige Publikum – sowohl in Metropolen als auch in kleineren Städten sehr gut”, berichtet der Unternehmer zufrieden. „Wir bekommen viele Anfragen von Interessenten für eine Partnerschaft. Aber langsames und bewusstes Wachstum ist uns sehr wichtig.” 

Sebastian Georgi

Essen und Trinken als Weiterbildung

Schließlich hat der umtriebige 46-Jährige ohnehin schon alle Hände voll zu tun – nicht nur mit NineOFive, sondern auch als gefragter Wein-Experte oder mit Reisen zu den besten Restaurants und Weingütern der Welt. „Jedes gute Essen und jeder gute Schluck Wein sind für mich Weiterbildung”, sagt Georgi.

Als Vorbild für sein eigenes Konzept nennt er unter anderem das Roberta’s Pizza in New York City mit seinem Ansatz, hervorragende Weine außerhalb des Sterne-Kontexts für breitere Zielgruppen zugänglich zu machen und dazu Soul Food zu servieren. „Die neapolitanische Pizza ist ein sehr frugales, produktorientiertes Gericht, das gut zu meiner Weinphilosophie passt und traditionell mit Wein aus der Region Kampanien genossen wird”, erklärt Sebastian Georgi. „Dennoch haben uns alle eine schnelle Pleite vorausgesagt. Aber wir haben es einfach mal gemacht!”

Rebell und Eishockeyfan

Dass Wein in seinem Leben einmal eine wichtige Rolle spielen würde, wurde Georgi jedoch nicht gerade in die Wiege gelegt. „Bis ich 20 war, habe ich fast keinen Alkohol getrunken, höchstens mal meinen Liebeskummer in Johnny Walker ertränkt.” Aufgewachsen im Ost-Teil Berlins, pflegt er noch heute eine emotionale Bindung zu seinem Kiez Pankow. „Die Jugend in der DDR hat mich geprägt. Ich bin stolz darauf, wo ich herkomme”, sagt er und meint das ausdrücklich geografisch, nicht ideologisch. „Ich war als Schüler ein Rebell, galt als Wandzeitungsagitator, weil ich Fußballergebnisse aus dem Westen veröffentlicht habe. Trotzdem lasse ich mir dumme Sprüche über den Osten nicht gefallen.” Spielen die Eisbären Berlin auswärts in der Nähe, ist die Chance immer noch groß, dass Eishockeyfan Georgi in der Halle ist. „Wenn die Spieler einlaufen, bedeutet das für mich Heimat.” Und natürlich findet er Union Berlin viel sympathischer als die Hertha. 

„Jedes gute Essen und jeder gute Schluck Wein sind für mich Weiterbildung“

Sebastian Georgi

Gastronom, NineOFive

In den wilden Nachwendejahren tobte er sich in der Berliner Techno-Szene ordentlich aus, bevor er die Stadt verließ, um – ausgerechnet im Sauerland! – eine Ausbildung zum Hotelfachmann zu absolvieren. „Es zeichnete sich allerdings schnell ab, dass Bettenaufschlagen und Schwimmbaddienst nicht unbedingt mein Ding sind.” Seinem Lehrbetrieb, dem 4-Sterne-Hotel Waldhaus Ohlenbach, ist er heute noch dankbar, dass er stattdessen schon früh Verantwortung im Restaurant übernehmen durfte und im hauseigenen Weinkeller mit rund 800 hochkarätigen Tropfen zum „Weinmensch” wurde.

Jancis Robinson unterm Kopfkissen

Kleiner und Großer Johnson gehörten fortan zu seiner Lieblingslektüre – „und ich habe buchstäblich mit Jancis Robinson unter dem Kopfkissen geschlafen”, verrät Sebastian Georgi eine weitere wichtige Lehrmeisterin seines Selbststudiums. „Der Seniorchef hat sich lustig gemacht über meine Wissbegier – ich habe alles aufgesaugt, was es über Wein zu wissen gab.” Als er seiner Mutter zum 50. Geburtstag eine von seinem Azubi-Gehalt zusammengesparte Flasche La Grande Dame Veuve Cliquot 1990 mitbrachte, griff diese allerdings lieber zum Rotkäppchen-Sekt. „Da musste ich sie notgedrungen alleine trinken”, kommentiert Georgi lakonisch. 

Sebastian Georgi

Nach der Hotel-Ausbildung arbeitete er auf verschiedenen Weingütern und verbrachte zwei Jahre als Sommelier bei Wein-Doyenne Christina Fischer in Köln. Vier Jahre als Chefsommelier bei Dieter Müller und Nils Henkel im Schlosshotel Lerbach sowie leitende Positionen im Restaurant „La Vision” im „Hotel im Wasserturm” und „Pinard de Picard in Saarwellingen vertieften sein Weinwissen weiter und schärften sein Profil als meinungsstarker Fachmann.

„Auf unserem Level verwenden wir die besten Zutaten, unser Wareneinsatz ist nicht geringer als im 1-Sterne-Laden.“

Sebastian Georgi

Gastronom, NineOFive

Streitlustig? Diskussionsfreudig!

Warum nennt man ihn „streitlustig”? „Ich würde mich als diskussionsfreudig und einen Freund klarer Worte bezeichnen – beruflich wie privat”, stellt Sebastian Georgi richtig. „In der Food- und Weinwelt wird unheimlich viel gelogen, das liegt mir nicht. Ich sage auch Winzern, mit denen ich befreundet bin, wenn ich einen ihrer Weine nicht gut finde. Ich glaube, das muss so sein, denn konstruktive Kritik hilft immer weiter und heißt ja nicht, dass ich den Menschen nicht mag.” Für das NineOFive kreiert er in Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Winzern Weine, wie er sie selbst gerne trinkt: im Einklang mit der Natur, mit einem gewissen Trink-Flow, durchaus progressiv und anders als gewohnt. ”Diese Editionen sind extrem wichtig für uns, weil wir nicht einfach nur unser Etikett draufkleben. Wir geben uns sehr viel Mühe, leider reicht die Menge nie wirklich aus.”

Übrigens nur einer der Gründe, warum sich die Weinkarten in den fünf NineOFive-Restaurants teilweise unterscheiden. „Die Gäste sind je nach Standort ganz verschieden, sie essen anders und trinken anders. Die DNA von NineOFive, der konsequente Qualitätsanspruch ist überall gleich, ebenso wie die Idee hinter der Weinauswahl. Aber schon aufgrund der verfügbaren Mengen können wir die Karte nicht 1:1 spiegeln”, erläutert Georgi.

Sebastian Georgi

Das NineOFive versteht sich als Nachbarschaftsrestaurant mit hochwertigsten Produkten. Gastronom Sebastian Georgi freut sich über Blogger genauso wie über Vorstandsvorsitzende, die hier Pizza und Wein genießen wollen. 

Das gilt auch für die Pizzen, für die bevorzugt Zutaten aus regionalen Quellen zum Einsatz kommen, wie auch das Interieur, bei dem ebenfalls vieles aus sorgfältiger Handwerksarbeit stammt – vom Geschirr über die Möbel bis hin zu den sizilianischen Fliesen. Einziges Muss: der vom Gastraum aus sichtbare Ofen, das 905 Grad Fahrenheit heiße Herzstück des Konzepts. „Wir verstehen uns als individuelle Gastronomie, bei der die Betreiber vor Ort ihre Persönlichkeit und ihr Netzwerk einbringen. Aber eben multipliziert.” 

Bloggerin neben dem Vorstandsvorsitzenden

Grundsätzlich spricht NineOFive ein breites Publikum an, das ebenso von der Pizza wie vom Wein angezogen wird – „bei uns sitzt der Vorstandsvorsitzende, der schon bei der Reservierung ankündigt, dass er Romanée-Conti trinken will, neben der 18-jährigen Bloggerin, die eine Margherita isst, dazu eine Apfelschorle trinkt, 25 Fotos macht und keine 20 Euro bezahlt”, erzählt Sebastian Georgi. „Beide sind gleich wertvoll für uns, denn an der Margherita verdienen wir mehr Geld als an teurem Wein – und meistens wird der Tisch auch schneller wieder frei.”

Sebastian Georgi

Die margenstarke Pizza – Kostenpunkt zwischen 10 und 18 Euro – erlaubt es ihm, die Preise für den Wein für fast jeden erschwinglich zu kalkulieren. Dabei macht Sebastian Georgi keine Kompromisse bei der Qualität der Zutaten. „Auf unserem Level verwenden wir die besten Zutaten, unser Wareneinsatz ist nicht geringer als im 1-Sterne-Laden.”

Kein Interesse am Stern

Die Liste der Pizza-Toppings liest sich wie das Sortiment italienischer Feinkosttheken: ’nduja Salami aus Kalabrien, Carpaccio Bresaola Black Angus, Parmaschinken und Fior di Latte Mozzarella landen ebenso auf bester Tomatensauce – Georgi: „rotes Gold!” – wie Provolone-Käse, Südtiroler Bacon, Capperi di Pantelleria IGP Kapern und 24 Monate gereifter Parmesan. Strebt er selbst nach einem Stern? „Das interessiert mich nicht”, winkt Sebastian Georgi ab. „Aber ein Bib Gourmand wäre toll – den haben andere Pizza-Restaurants schon bekommen. 3 Sterne kann man heute am Reißbrett machen, wenn man weiß, worauf es ankommt. Allerdings schmeckt das dann auch nach Reißbrett.”

„Wo, wenn nicht bei uns in der Gastronomie sollen junge Menschen denn heute Qualitätsbewusstsein lernen?“

Sebastian Georgi

Gastronom, NineOFive

Im demnächst eröffnenden zweiten Restaurant in Düsseldorf (inzwischen in der Moltkestraße eröffnet, Red.) wird es auch erstmals Pasta und Eiscreme geben – selbstverständlich handgemacht. Und auch den Handel hat Georgi im Visier: Unter dem Label NineOFive Frozen sollen zunächst drei handbelegte Varianten den Markt für Tiefkühlpizza aufmischen. Seine Produkte Außer-Haus-fähig zu machen, hat das Team bereits während der Corona-Krise gelernt: „Nach fünf Tagen, in denen ich wegen des ersten Lockdowns depressiv zu Hause saß, haben wir ein Delivery-Geschäft aufgezogen, das auch heute noch für schöne Zusatzumsätze steht – weitestgehend unabhängig von den großen Plattformen und deshalb profitabel”, berichtet Georgi. „Damit können wir zudem die Stammgäste glücklich machen, die möglicherweise keinen Platz im Restaurant ergattert haben.” 

Sebastian Georgi

Nicht stehen bleiben

Als Gastronom bewundert Sebastian Georgi Kollegen, die nicht stehenbleiben, sondern sich immer wieder neu erfinden. Die ihre Zutaten selbst erzeugen und selbst handwerklich verarbeiten. „Ich bin jeden Tag demütig, dass unsere Läden voll sind, dass wir super Gäste haben und tolle Weine verkaufen”, sagt der rastlose Unternehmer, dem es ein Anliegen ist, den Nachwuchs mit seiner Begeisterung für Wein und Genuss anzustecken, wobei er die Branche in der Pflicht sieht. „Wo, wenn nicht bei uns in der Gastronomie sollen junge Menschen denn heute Qualitätsbewusstsein lernen?”