Die angesagten Berliner Szene-Lokale Nobelhart & Schmutzig und KINK erregen mit ihrer konsequent lokalen Philosophie international Aufmerksamkeit. Ihre Weinkarten untermauern diesen Anspruch, ohne dogmatisch zu sein. Für das Magazin Best of Swiss Gastro – Chefsache haben wir mit Nobelhart & Schmutzig-Gastgeber Billy Wagner und KINK-Sommelier Edric Kent über ihre Kriterien bei der Weinauswahl gesprochen.
Kauft für das Nobelhart & Schmutzig Weine, die er selbst trinken möchte: Gastronom Billy Wagner.
Essen ist politisch – Wein trinken auch. Das sagt Billy Wagner, Inhaber von „Deutschlands politischstem Restaurant“ Nobelhart & Schmutzig in Berlin. Politisch insofern, dass Wagner und sein Küchenchef Micha Schäfer nach dem Motto „Brutal lokal“ den Hauptstädtern die Lebensmittel aus ihrer Umgebung nahebringen und damit Produzenten im Berliner Umland unterstützen.
Eines der 50 besten Restaurants der Welt
Mit ihrem Verzicht auf weit gereiste Zutaten wie Olivenöl, Pfeffer, Muskatnuss, Zitrusfrüchte sowie Vanille, Zimt oder Schokolade geben sie nicht nur der deutschen Küche ein neues, eigenes Profil, sondern entkoppeln sie auch vom ihrer Meinung nach fehlgeleitete System der globalisierten Landwirtschaft. Dieser Ansatz hat dem unter anderem Michelin-besternten Speiselokal als einem von nur zwei deutschen Restaurants einen Platz im illustren Kreis der 50 weltweit besten Restaurants beschert.
Protest gegen Vereinheitlichung
Beim Wein ist die Sache etwas komplizierter, liegt Berlin doch deutlich nördlich des als „Limes des Weinbaus“ bekannten 50. Breitengrads. Dennoch haben auch bei der gemeinsam mit den beiden Sommeliers Andrew Benn und Lucas Klemm gestalteten Weinkarte der regionale Gedanke und der Protest gegen die Vereinheitlichung der Kulturlandschaft höchste Priorität. „Im Grunde kaufe ich die Weine, die ich trinken möchte, für mich“, verrät Wagner seine Strategie. „Die Gäste bekommen so landwirtschaftliche Erzeugnisse mit einem besonderen Ursprung, hergestellt von Menschen, die wir kennen. Sie bilden geschmacklich ein bestimmtes Terroir ab – mit einem unverwechselbarem Profil und einer klaren Idee.“ Natürlich könne man auch die 500. Cabernet-Cuvée von der Mosel trinken, räumt der mehrfache Sommelier des Jahres und „Meister der Weine 2017“ ein. „Aber man muss sich im Klaren sein, welche Art von Weinbau man damit fördert.“
Im Februar 2015 eröffnete Billy Wagner mit Küchenchef Micha Schäfer in der Berliner Friedrichstraße das Speiselokal Nobelhart & Schmutzig. Von Beginn an war es ihr Anliegen, unter dem Motto „Brutal lokal“ die LebensmittelproduzentInnen im Berliner Umland zu unterstützen und ihren Gästen deren Produkte nahe zu bringen. Die Gäste sitzen mit freiem Blick auf die Küche an der Theke – als Teil eines gemeinschaftlichen Ganzen. Die vielgängige Speisenfolge mit Gemüseschwerpunkt wird von Micha Schäfer und seiner Küchenmannschaft vorgegeben.
Neues entdecken
Die regionale Philosophie wird auf der insgesamt 146 Seiten starken Getränkekarte immer wieder thematisiert und erklärt. Unter dem Überbegriff „Vergorenes“ finden sich neben Apfel-, Birnen-, Quitten- und Kirschweinen die Kategorien Frucht-, Boden- und Handschriftweine. 75 Prozent der Gäste entscheiden sich für die Getränkebegleitung zum Menü (10-17 Euro pro Glas) oder offene Weine (15,50 Euro/Glas), ein Viertel für Flaschen à la Carte zu Preisen zwischen 35 und 1.400 Euro. „Die offenen Weine sind ausgewählt, um die einzelnen Gänge und nicht unbedingt den Trinker zu begleiten“, kommentiert Wagner.
Er wünscht sich, dass sich die Gäste am besten schon vor dem Restaurantbesuch mit der im Internet verfügbaren Getränkekarte beschäftigen und dabei Neues entdecken. „Das kann auch mal eine edle Literflasche Bier sein. Wir freuen uns außerdem, wenn jemand einen eigenen Wein mitbringt, der eine besondere Bedeutung für ihn oder sie hat“, erklärt Wagner. Das Korkgeld richtet sich nach der Qualität: Wer in offensichtlicher Sparabsicht mit einem günstigen Tropfen aus dem Supermarkt erscheint, zahlt ordentlich drauf.
Sommelier Edric Kent freut sich, dass sich die Qualität der KINK-Weinkarte unter Kennern herumspricht. Foto: Lee Edward
Weine mit „Kink“
Ebenfalls als eine der besten Weinadressen Berlins gilt inzwischen das KINK. Das Mitte 2020 eröffnete Restaurant von Marc Oliver Mansaray und Daniel Scheppan hebt sich in der öffentlichen und medialen Wahrnehmung vor allem durch seine kreativ-saisonal-regionale Küche und der imposanten Bar mit angeschlossenem Labor vom Berliner Mainstream ab. Hier entstehen im Rotationsverdampfer hauseigene Destillate für einzigartige Drinks und die massgeschneiderte Speisenbegleitung. Braucht es da noch ein starkes Weinprofil? „Auf jeden Fall“, sagt Sommelier Edric Kent. „Die Idee hinter KINK ist ein Dreiklang aus Küche, Bar und Weinkeller.“ Kents Anspruch steht im Einklang mit der Philosophie des Konzepts: „Wir wollen die Gäste dazu bringen, ihren Horizont zu erweitern, ohne sie zu verschrecken.“
Die großen Weingüter fehlen dementsprechend auf der Karte. Stattdessen stehen Weine mit einem „Kink“, sprich: einer Besonderheit, im Fokus. „Gleichzeitig sind wir nicht dogmatisch“, betont Kent. „Wenn es ein guter Wein ist, er Charakter hat und man die handwerkliche Klasse schmeckt, dann nehmen wir ihn auf die Karte.“ Barchef Arun Naagenthira Puvanendran und Küchenchef Ivano Pirolo dürfen ein gewichtiges Wort mitreden, damit ein harmonisches Gesamterlebnis aus Speisen und Getränken entsteht.
Im denkmalgeschützten Bau auf dem Pfefferberg in Prenzlauer Berg schufen Daniel Scheppan und Marc Oliver Mansaray mit dem KINK einen Ort der Begegnung – mit progressiver Getränkekunst und undogmatischer Esskultur. Ein imposanter Raum mit acht Metern Deckenhöhe bildet den Rahmen für die zentral platzierte Bar samt DJ-Pult und Bühne sowie Tanzfläche. Dabei versteht sich KINK als Labor und offene Werkstatt zugleich: Neue Erfindungen und Wissen werden geteilt werden. Das Angebot soll gleichermaßen Cocktailneulinge begeistern und Barflys ein neues Zuhause geben.
Vorurteile überwinden
Die rund 140 Positionen auf der Weinkarte legen Schwerpunkte auf Deutschland, Frankreich, Italien und die iberische Halbinsel; mazerierte Weine, Rotweine aus den USA und Süßweine haben ebenfalls eigene Rubriken. Besonders spannend findet Kent derzeit moderne Weine aus Griechenland – auf der aktuellen Karte finden sich zwei Xinomavros aus Makedonien, zwei Roditis-Naturweine vom Peloponnes und eine Assyrtiko-Cuvée von der Insel Santorin, außerdem ein Kydonitsa Barrique aus der Region Pella. „Wunderbare, komplexe Weine“, schwärmt Kent, der auch „Perlen“ aus Bulgarien und von den Azoren im Programm hat. „Es geht auch darum, Vorurteile zu überwinden.“
Edric Kent und sein Sommelier-Kollege Max Tschudi (rechts) setzen im KINK auf Weine mit Charakter und handwerklicher Klasse. Foto: Lee Edward
Das Preisband pro Flasche reicht von 32 Euro für einen Savignac Weißburgunder von der Mosel bis hin zu 302 Euro für einen Nebbiolo aus dem Piemont. Bei der Auswahl der passenden Begleitung zum Menü helfen Edric Kent und sein Sommelier-Kollege Max Tschudi im persönlichen Gespräch: „Unsere Aufgabe ist es, die Gäste und ihre Vorlieben richtig einzuschätzen und dafür zu sorgen, dass sie mit der Auswahl glücklich sind – das kann auch ein Cocktail oder ein Bier sein.“
Emotionales Vokabular
Bei der Beschreibung der Weine setzt Kent auf einen lockeren Tonfall und möglichst emotionales Vokabular: „Wenn wir über Geschmacksnuancen sprechen, fällt es manchen Gästen schwer, diese nachzuvollziehen. Stattdessen nutzen wir Begriffe wie ‚elegant‘, ‚lebendig‘ oder ‚anmutig‘. Darunter können sich die Gäste eher etwas vorstellen. Ziel ist nicht, den teuersten Wein auf der Karte zu verkaufen, sondern, dass die Leute sich wohlfühlen!“
Auch wenn sich das KINK nicht ausdrücklich als Wein-Adresse positioniert, spricht sich die Qualität der Weinkarte langsam aber sicher herum. Edric Kent freut’s: „Wir ersparen uns den Stress eines Internet-Hypes. Wir überzeugen lieber mit einer sich stetig steigernden Leistung.“
Fotos Nobelhart & Schmutzig/Yoni Nimrod, Marko Seifert
Barbara Schindler entdeckte schon früh ihre Lust am Schreiben. Mit 16 stand für sie fest: Ich will das Geschichtenerzählen zum Beruf machen, werde Journalistin. Mit einem Studium der Musikwissenschaft, Anglistik und Romanistik orientierte sie sich in Richtung Feuilleton, landete dann aber nach einigen Umwegen beim Fachjournalismus mit Schwerpunkt Gastronomie. Seither berichtet sie – zunächst als festangestellte Redakteurin bei der Fachzeitschrift Food-Service, seit Sommer 2018 freiberuflich – über alle Aspekte der Branche. Barbara Schindler ist verheiratet und lebt in Frankfurt am Main.