Industriell hergestellte Lebensmittel – Freund oder Feind?
War es nicht erst gestern, dass die Verbraucher um ‚reelle‘, natürliche, saubere und unverarbeitete Lebensmittel bettelten? Kaum im Massenmarkt angekommen, hat sich der Trend schon wieder in sein Gegenteil verkehrt: Statt mehr oder weniger natürlich produzierter Milch und Fleisch wollen die Gäste und Kunden nun ‚Fake Food‘: pflanzlichen Käse und Fleischalternativen aus dem Labor, weil sie davon überzeugt wurden, dass die ‚echten‘ Produkte weder gesund noch ökologisch vertretbar seien. Während das Phänomen in der Gastronomie bisher vornehmlich in Coffeebars und Burger-Restaurants in Erscheinung tritt, sind die Supermärkte bereits voll von industriell hergestellter Mandel-, Soja und Kokosnuss-Milch, Würstchen aus Seitan und Gehacktem aus Soja. Natürlich und ohne Zusatzstoffe? Wohl kaum.
„Das ist kein Food Trend, sondern eine richtige Bewegung“, kommentieren Baum & Whiteman die Entwicklung, maßgeblich befeuert von der zunehmend tonangebenden jungen Generation. „Dahinter steht die Überzeugung, dass Tierhaltung die Umwelt verschmutzt und das Klima schädigt. Ganze Lebensmittelkategorien stehen davor, durch neue Produkte ersetzt zu werden“, glauben die Experten. Schon investieren große Lebensmittelproduzenten und Supermarktketten in innovative Startups, die die Produkte von morgen entwickeln – selbstverständlich aus Pflanzen. 2021 soll ein Burger-Patty aus dem Labor nur noch 10 Dollar oder sogar weniger kosten. Flexitarier schwören dagegen auf Hybride, die teils aus Pflanzen, teils aus Fleisch hergestellt werden.
In der Restaurantbranche, wo mittlerweile kaum ein Fast-Food-Player noch ohne veganes Burger-Patty auskommt, dürften wir bald also auch vermehrt rein pflanzliche Pizzen, ‚Fleisch‘-Bällchen und ‚Chicken‘ Nuggets serviert bekommen. Nestlé arbeitet angeblich schon an einem Cheeseburger mit falschem Fleisch, falschem Käse und falschem Speck. Fehlt nur noch falsches Brot. Erinnert sich noch jemand an die Aufregung um Analog-Käse? Geschenkt! Industriell ist das neue nachhaltig!
Spam auf dem Teller
Keine Sorge, hierbei geht es nicht um unerwünschte frivole e-Mails, sondern um das kultige Frühstücksfleisch, das in den USA und dort vor allem auf Hawaii zu den Grundnahrungsmitteln gehört. Und sich – glaubt man Baum & Whiteman – zum nächsten kulinarischen Exportschlager der Inselgruppe nach Poké Bowls entwickeln könnte. Schon taucht es in Sushi, Tacos und Reisgerichten auf.
Oder als Ersatz für Filet Mignon in Katsu-Sandwiches. Ob dieser Spam es seinem Namensvetter gleichtut und die ganze Welt überschwemmt, bleibt allerdings abzuwarten. Hawaii als Absender neuer Food Trends sollte man aber definitiv im Auge behalten.
Cocktails go Mocktails
Millennials trinken immer weniger Alkohol. Grundsätzlich sicher eine gute Nachricht, hat diese Entwicklung nachhaltigen Einfluss auf die Flaschensammlung hinter der Bar. Schon erobern alkoholfreie Gins und Martinis die Spirituosenregale, imitieren Fertiggetränke den Geschmack von Rum und Whiskeys. Denn die junge Generation meidet harte Drinks vor allem aus Rücksicht auf ihre Gesundheit. Weil sie auf Partys trotzdem nicht als notorische Limo-Trinker dastehen wollen, greifen junge Leute heute zu Wasser mit Weingeschmack. Erste Brauereien investieren Baum & Whiteman zufolge bereits in Hanf-Produzenten, was möglicherweise den Rückschluss zulässt, dass es ganz ohne Rausch auch bei der Jugend nicht geht. „Wir warten auf den nächsten Sommer und schauen, ob Starbucks-Fans demnächst zu Bier mit Kaffeearoma greifen“, kommentieren die Experten launig. Wenn, dann vermutlich zu alkoholfreiem.
Fleisch von alten Kühen
Um noch mal auf das Thema Fleisch zurückzukommen: In Spanien haben Feinschmecker nämlich entdeckt, dass Rinder dort nach einem deutlich längeren Leben ungeahnte kulinarische Erlebnisse bieten. Steaks von Kühen, die erst nach acht oder sogar zehn Jahren – statt nach zweien – zum Schlachter kommen, werden momentan in Kalifornien und Texas als vaca vieja gehypt. Zu Preisen, die locker mit Wagyu-Beef mithalten können. Noch eine Rarität in den USA, könnten die festeren, weniger marmorierten und geschmacksintensiveren Steaks bald dafür sorgen, dass Rindern auch in Amerika ein längeres Leben beschieden sein wird.
Wie von Geisterhand gekocht
Nicht fehlen in einer Food Trend-Vorschau darf natürlich das Phänomen der Ghost Kitchens, auch bekannt als ‚Dark Kitchens‘ oder ‚Virtual Kitchens‘, das derzeit durch die Restaurant-Welt spukt. Küchen ohne Gastraum, ausschließlich für die Produktion von Gerichten für das Liefergeschäft konzipiert. In den USA bereits ein Mainstream-Thema – Starbucks, Chick-Fil-A, Red Lobster und Panera Bread gehören zu den Mitspielern -, zögern die großen Gastronomen hierzulande noch.
Wenn sich die Betreiber von Ghost Kitchens mit den Delivery-Profis verbünden oder Lieferfirmen in großem Stil eigene Küchen installieren, könnte dies die ganze Branche auf den Kopf stellen, prophezeien Baum & Whiteman. „Daraus könnten schnell ganz neue, große Foodservice-Ketten entstehen. Die dann wiederum von Kreditkartenanbietern oder Online-Reservierungsplattformen geschluckt werden.“ Damit würden die bisherigen Partner zu den größten Konkurrenten ihrer Kunden. Zumal sie über jede Menge Investorengelder und einen reichen Datenschatz verfügen. Spooky.
Pre-Set schlägt Build-your-own
Kein flüchtiger Hype mehr: Bowls sind gekommen, um zu bleiben. Doch merken immer mehr Fast-Casual-Konzepte, dass es ganz schön zeitintensiv ist, jedem Kunden seine Schüssel individuell zusammenzustellen und forcieren deshalb den Verkauf vorkomponierter Kreationen. Aber nicht One-fits-all, sondern abgestimmt auf die jeweilige Stimmung des Gasts. So wie die britische Healthy-Fast-Food-Kette Leon, die auf ihrer Online-Vorbestell-Plattform ersteinmal die Tagesform und den aktuellen Lifestyle ihrer Kunden abfragt, um dann die passenden Gerichte vorzuschlagen.
Oder die Salatformel Sweetgreen, wo es in einem Teststore keinen Counter mit zig Komponenten zur Auswahl mehr gibt, sondern ausschließlich im wahrsten Sinne des Wortes fixe Rezepturen. Hatten wir das nicht schon mal – vor der Individualisierungswelle? Trotzdem im Jahr 2020 revolutionär.
Der (Google-)gläserne Gast
Und noch etwas kommt zurück: Erinnern sie sich an 2013? An Google Glasses? Das wenig schicke Brillenmodell aus dem Hause Alphabet sollte Virtualität in unsere Realität bringen. Und verschwand kurz darauf wieder im digitalen Orbit. Bis jetzt. Denn immer mehr Restaurants interessieren sich für die Informationen, die so ein Nasenfahrrad mit Datenspeicher ihnen über ihre Gäste mitteilen kann. Welche Nährstoffe werden benötigt beziehungsweise nicht vertragen? Was wurde beim letzten Besuch verzehrt? Hat es dem Gast geschmeckt? Und deckt seine Krankenversicherung mögliche Gesundheitsschäden ab, wenn er noch ein Dessert bestellt?
Alles für mehr Tempo und Zufriedenheit. Klingt trotzdem nach Orwells 1984? It’s 2020 – und das geht nicht wieder weg.
Und sonst?
Welche weiteren Trends tauchen am Horizont auf? Laut Baum & Whiteman werden wir uns in Zukunft mit überladenen Frühstücks-Sandwiches, Sneakers mit dem Namen von Promi-Köchen, Amba (einer Sauce aus dem Mittleren Osten mit eingelegter Mango), angebranntem Käsekuchen aus dem Baskenland, Lebensmitteln mit Collagen-Boost und natürlich mit Algen und Seetang beschäftigen. Guten Appetit!
Barbara Schindler entdeckte schon früh ihre Lust am Schreiben. Mit 16 stand für sie fest: Ich will das Geschichtenerzählen zum Beruf machen, werde Journalistin. Mit einem Studium der Musikwissenschaft, Anglistik und Romanistik orientierte sie sich in Richtung Feuilleton, landete dann aber nach einigen Umwegen beim Fachjournalismus mit Schwerpunkt Gastronomie. Seither berichtet sie – zunächst als festangestellte Redakteurin bei der Fachzeitschrift Food-Service, seit Sommer 2018 freiberuflich – über alle Aspekte der Branche. Barbara Schindler ist verheiratet und lebt in Frankfurt am Main.