Fast alle Gastronomen in Deutschland kämpfen derzeit darum, ihre Restaurants nach dem zweimonatigen Lockdown unter strengen Infektionsschutzauflagen und angesichts verunsicherter Gäste über Wasser zu halten. Neben dem Kampf um die eigene Existenz, in viele Fällen das Lebenswerk, geht es auch darum, die Arbeitsplätze der Mitarbeiter zu sichern und zu verhindern, dass diese in andere Branchen abwandern. Doch was, wenn man ausschließlich Mitarbeiter hat, die auf dem ersten Arbeitsmarkt so gut wie keine andere Chance haben? Für die ein Job – sprich: ein strukturierter Alltag – keine Selbstverständlichkeit ist und nicht nur bedeutet, eigenes Geld zu verdienen, sondern auch soziale Kontakte in einem fremden Land zu knüpfen? Die Möglichkeit, Sprache und Kultur der neuen Heimat zu lernen und buchstäblich anzukommen? Mit ihrem Über den Tellerrand Café in München geben Jasmin Seipp und Julia Hörig seit zwei Jahren genau solchen Menschen eine berufliche Perspektive. Corona bedeutet für sie und ihr gut 20-köpfiges Team einen tägliches Ringen ums Überleben – in mehr als einer Hinsicht.
Begegnungsstätte für Geflüchtete und Einheimische
„Als sich abzeichnete, dass wir wegen Corona unser Über den Tellerrand Café schließen müssen, war das erst einmal ein riesiger Schock“, erzählt Jasmin Seipp. Das Startup in der Münchner Volkshochschule war 2018 aus einem Sozialprojekt hervorgegangen, bei dem Geflüchtete und Einheimische gemeinsam kochen. Das 2019 mit dem Deutschen Gastro Gründerpreis ausgezeichnete Café versteht sich als Begegnungsstätte, in dem Menschen mit und ohne Fluchterfahrung zusammekommen und voneinander lernen. Nachdem die Volkshochschule bereits Mitte März ihren Betrieb coronabedingt eingestellt hatte, entschieden auch die beiden Geschäftsführerinnen, ihr Café zu schließen – denn von einem Tag auf den anderen fehlte die so wichtige Lauf- und Stammkundschaft.
Kämpfen um die Arbeitsplätze ihrer Mitarbeiter mit Fluchterfahrung: Julia Harig (l.) und Jasmin Seipp vom Über den Tellerrand Café, München. Foto: Leaders Club
Von 180 auf Null
„Das ging von 180 auf Null!“, erinnert sich Jasmin Seipp. Aber es erwies sich als Glücksfall, denn so konnten Soforthilfen und Kurzarbeitergeld frühzeitig beantrag werden. Ihren Mitarbeitern zu erklären, was das für sie bedeutete, stellte die beiden Gründerinnen vor besondere Herausforderungen: „Keiner im Team hatte das Wort ‚Kurzarbeit‘ je gehört“, erzählt Julia Harig. „Wir haben uns mit jedem einzelnen zusammengesetzt und in aller Ruhe besprochen, welche Hilfen es gibt und wie es nun weitergeht.“
Zum Schock über die Schließung des Cafés kam die Angst vor der Krankheit. „Für Geflüchtete ist es schwierig, sich über die Medien über mögliche Ansteckungsrisiken zu informieren. Also mussten wir unsere Mitarbeiter aufklären, wie das Virus übertragen wird und was zu tun ist, wenn man sich krank fühlt“, berichtet Seipp und beziffert den Aufwand für Information und Schulung des Teams mit rund 200 Stunden. Am schlimmsten war für die Gründerinnen jedoch, sieben Mini-Jobbern und studentischen Aushilfen zu kündigen. „Wir haben jedem einzelnen einen persönlichen Brief geschrieben. Und anschließend Dankschreiben zurück bekommen! Auf eine Kündigung!“ Natürlich hoffen sie, nach Corona das Team wieder komplett an Bord zurück zu holen.
Schönster Spuckschutz der Stadt
Trotz Rückschlägen und einiger Nervenzusammenbrüche: Den Kopf in den Sand zu stecken, kam für die Gründerinnen nicht in Frage. Stattdessen stürzten sie sich, unterstützt von ihren beiden Betriebsleitern, in die Aufgabe, das Café über den Tellerrand für die Zeit nach der Schließung fit zu machen, schrieben neue Mitarbeiterhandbücher in einfacher Sprache, ließen von einem Bekannten einen Spuckschutz bauen („Der Schönste der Stadt!“) und starteten Marketingaktivitäten für die Wiedereröffnung.
Auf Take-away eingestellt: Wie viele andere Gastronomen auch, lancierte das Über den Tellerrand Café während des Corona-Lockdowns einen To-go-Service. Fotos: Café über den Tellerrand.
Als „Marketing“ verbuchen Seipp und Harig auch das zwischenzeitlich aufgezogene Take-away- und Liefergeschäft, letzteres in Kooperation mit Lieferando. „Das war alles andere als lukrativ. Es ging hauptsächtlich darum, den Menschen in der Nachbarschaft zu zeigen: Wir sind noch da!“, resümieren die Gastronominnen. Doch es bot auch Lernstoff für die Zukunft. „Seit der Wiedereröffnung machen wir vorsichtige Schritte in Sachen Selbstliefern, werden dabei von ehrenamtlichen Helfern unterstützt. Allerdings ist jetzt nicht die Zeit, neue, kostenintensive Geschäftsfelder zu erobern“, sagt Seipp.
Corona trifft Geflüchtete auf dem Arbeitsmarkt am härtesten
Keine andere Gruppe ist laut einem Bericht der ZEIT am Arbeitsmarkt härter von den Folgen der Wirtschaftskrise betroffen. Demnach stieg die Zahl der Arbeitslosen unter Menschen mit ausländischem Pass im März und April viermal so stark wie unter denen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Und bei den Ausländern wiederum verloren weit überdurchschnittlich oft die Geflüchteten ihre Jobs. Bei den Deutschen stieg die Zahl der Arbeitslosen in den vergangenen zwei Monaten um rund ein Prozent, bei den Beschäftigten mit ausländischem Pass um fast vier Prozent. Eine weitere Auswertung zeigt, dass Menschen, die aus den typischen Flüchtlingsherkunftsländern kommen, am stärksten vom Jobabbau während der Pandemie betroffen sind. Während etwa die Arbeitslosigkeit bei Ausländern mit einem EU-Pass nur um 0,9 Prozent zunahm, stieg sie bei den Menschen aus den Kriegs- und Krisenländern um 5,1 Prozent.
Stammkundschaft fehlt
Ohnehin beinhaltet die Wiedereröffnung, zunächst der Terrasse, eine Woche später des Gastraums, genügend Herausforderungen für das Team. „Unsere Stammkundschaft fehlt, da die VHS nach wie vor keine Kurse anbietet. Außerdem dürfen wir nur mit etwa 40 Prozent unserer Sitzplätze arbeiten“, erläutert Harig. Am meisten schmerzt allerdings der komplette Wegfall des Catering-Geschäfts, das vor Corona rund 40 Prozent des Umsatzes ausmachte. Ob der verlorene Umsatz bald zurückkommt? „Eigentlich wollten wir in diesem Bereich wachsen, drei neue Mitarbeiter einstellen und von unseren Rücklagen ein dringend benötigtes Fahrzeug kaufen“, berichtet Seipp. Die Rücklagen helfen nun, das Café über Wasser zu halten, ob genug für den Wagen übrig bleibt, ist fraglich.
Ständiges Abwägen
„Das Über den Tellerrand Café ist seit Corona ein ganz anderer Laden“, sagen die Betreiberinnen etwas wehmütig. „Klar spüren wir bei vielen Gästen, die jetzt wieder zu uns kommen, die Freude darüber, wieder auszugehen und auch die Wiedersehensfreude mit unserem Team. Aber einige sind auch irritiert, dass sie ihren Namen angeben müssen, um einen Espresso zu trinken.“ Die Wiedereröffnung macht ein ständiges Abwägen notwendig: Wie gestalten wir die Öffnungszeiten? Was ist sinnvoll? Machen wir Samstag auf oder nicht? Lohnt es sich? „Als Startup sind wir es gewohnt, im Krisenmodus zu agieren. Aber jetzt mussten wir nochmal viel dazu lernen in Sachen Krisenmanagement“, bestätigt Seipp. Und im Hinterkopf ist ständig die Sorge vor Kontrollen: „Machen wir auch alles richtig? Wir bemühen uns übermäßig, alle Regeln einzuhalten. Aber man ist trotzdem immer ein bisschen angespannt.“
Arbeiten mit Masken: Auch im Über den Tellerrand Café die neue Normalität seit Corona.
Soziale Preisspanne
Die Speisekarte haben sie anfangs wöchentlich angepasst, das normalerweise zwei Tagesgerichte plus 13 feste Offerten umfassende Angebot deutlich reduziert. Der schon vor Corona praktizierten „Sozialen Preisspanne“ kommt nun eine besondere Bedeutung zu: „Wir weisen drei unterschiedliche Preise für Hauptgerichte aus“, erklärt Harig. „Wer uns und das Konzept unterstützen möchte, kann mehr zahlen, wer wenig Geld hat, zahlt weniger. Diese Preisspanne wird jetzt umso relevanter, da viele ohnehin schon prekär Beschäftigte unter unseren Gästen jetzt selbst in Kurzarbeit sind.“
Die höchste Preiskategorie – „Zukunftsfutter“ genannt – bleibt stabil, die günstigeren Preise wurden dagegen gesenkt. Dennoch steigt der Anteil derjenigen Gäste, die den hohen Preis zahlen. Auch die Senkung der Mehrwertsteuer von Juli an wollen Seipp und Harig nicht an ihre Gäste weitergeben, um das Café wieder auf sichere finanzielle Füße zu stellen.
Große Solidarität
Corona hat nicht nur das Team zusammengeschweißt – auch die Gäste und Freunde des Projekts bewiesen viel Solidarität. „Wir haben über FirstVoucher relativ schnell angefangen, Gutscheine zu verkaufen und dabei 10.000 Euro eingenommen“, staunen Seipp und Harig über die großzügige Unterstützung. „Ein Stammgast allein hat 200 Euro bezahlt und braucht diese nun nach und nach auf! Andere, wie eine Studentin, die jetzt ins Ausland geht, sagen: Behaltet den Gutschein und ladet andere Gäste ein.“ Eine weitere Spendenaktion erlöste 3.000 Euro „Trinkgeld“ für das Team. „Es ist toll, dass uns so viele Leute an uns glauben. Viele verstehen erst jetzt, wie Spitz auf Knopf in der Gastro gerechnet wird. Wenn wir sagen, wir arbeiten ‚non profit‘, dann brauchen wir ja trotzdem Rücklagen. Da leistet Corona nun Überzeugungsarbeit!“
Geschreinert von einem Freund: Der „schönste Spuckschutz Münchens“.
Meeting in Corona-Zeiten: Wichtigstes Ziel ist es, die Arbeitsplätze im Café zu erhalten.
„Wir gehen da jetzt durch“
Pro Tisch sind nun mehr Mitarbeiter im Einsatz, die die Hygiene-Auflagen erfüllen müssen. Julia Harig: „Viele Gastronomen sagen, wir machen jetzt noch nicht auf, weil der Umsatz einfach nicht reicht, um noch jemanden zu bezahlen, der die Gäste platziert. Man braucht Risikobereitschaft, da jetzt durchzugehen.“ Denn schließlich betreiben sie das Café nicht, um Falafel und Humus zu verkaufen, sondern zum Arbeitsplätze zu schaffen. „Das Café gibt es nur wegen des Teams! Unsere Mitarbeiter haben fünf Wochen in Flüchtlingsunterkunft gesessen, sie brauchen wieder Struktur in ihren Tagen und sind sehr froh, dass sie wieder arbeiten können.“
Mit den sinkenden Infektionszahlen steigt auch die Hoffnung auf ein zumindest ein einigermaßen gutes Sommergeschäft. Am 1. Juli nimmt die Volkshochschule ihren Kursbetrieb wieder auf. „Ich habe Vertrauen, dass wir das schaffen“, sagt Jasmin Seipp. „Als Startup sind wir es gewohnt, uns immer wieder an neue Situationen anzupassen.“ Und Julia Hörig ergänzt: „Wir wollen gar nicht unbedingt das zurück, was wir vorher hatten, sondern uns weiterentwickeln und alle Chancen ergreifen. Unser größter Wunsch: Dass in einem Jahr alle Arbeitsplätze zurück sind!“
Weitere Erfahrungsberichte in der Fizzz
Das Interview mit Jasmin Seipp und Julia Harig ist Teil einer Recherche über Erfahrungen von Gastronomen mit der Wiedereröffnung ihrer Betriebe unter den Bedingungen der Corona-Pandemie. Der vollständige Artikel, in dem auch andere Unternehmer zu Wort kommen, erscheint in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift Fizzz.
Barbara Schindler entdeckte schon früh ihre Lust am Schreiben. Mit 16 stand für sie fest: Ich will das Geschichtenerzählen zum Beruf machen, werde Journalistin. Mit einem Studium der Musikwissenschaft, Anglistik und Romanistik orientierte sie sich in Richtung Feuilleton, landete dann aber nach einigen Umwegen beim Fachjournalismus mit Schwerpunkt Gastronomie. Seither berichtet sie – zunächst als festangestellte Redakteurin bei der Fachzeitschrift Food-Service, seit Sommer 2018 freiberuflich – über alle Aspekte der Branche. Barbara Schindler ist verheiratet und lebt in Frankfurt am Main.