Eine Frankfurter Kunstgalerie samt anschließend zum Verzehr freigegebener Food-Art-Installation als Schauplatz für die Vorstellung des jüngsten Food Reports von Trendforscherin Hanni Rützler: Überraschend, beziehungsreich und nicht ohne provokatives Potenzial. Angesichts der kulinarisch-künstlerischen Begegnung mit Marsh Mellows, Ahoi Brause & Co. sollte sich jeder seinen eigenen Reim darauf machen, was Kunst in Verbindung mit Food an Irritation auslösen kann. Im besten Fall entstehen daraus, so Rützler, Denkanstöße. Für das eigene Essverhalten, für Innovation überhaupt.

Weshalb im neuesten Food Report ein eigenes Kapitel dem Thema Eating Art gewidmet ist. Denn auch Kunst und Design sind Rützler zufolge dazu angetan, Bewegung in unser Ernährungssystem zu bringen. Das müsse in Zukunft nachhaltiger, gesünder, ressourcenschonender und emissionsfreier werden – mit dieser Programmatik steht die Autorin des Trend Reports wahrlich nicht alleine da.

Doch wie steht es aktuell um unser aller Essverhalten? Und wohin geht aller Voraussicht nach die Reise in Sachen Food Trends und Esskultur? Zwischen Bestandsaufnahme, Prognosen und lehrreichen Best Practice-Beispielen aus aller Welt liefert der Food Report etliches an Auskünften, speziell auch an Gastronomen adressiert.

Snackification

Ein Schwerpunktthema des jüngsten Food Reports. Von der fortschreitenden Erosion des klassischen Drei-Mahlzeiten-Rhythmus hat man schon gelegentlich gehört. Wann, wo und wie gegessen wird, obliegt der persönlichen Entscheidung der Konsumenten. Rützler: „Nie konnten wir so frei über unser Essen entscheiden wie heute.“

Was anscheinend die Tatsache befördert, dass der immerwährende Wandel der Esskultur sich heute radikaler und rasanter darstellt als je zuvor. Und das, hält Rützler fest, nicht nur in Deutschland oder Europa, sondern in allen Wohlstandsgesellschaften weltweit. „Rund 50 % der Weltbevölkerung sind heute der Mittelschicht zuzurechnen!“ Definitiv zutreffend, dass erst der Überfluss den Luxus erlaubt, sich um den eigenen Essensstil zu sorgen. Rützler nennt das Suchbewegungen, die Food-Trends antreiben. Als „esskulturelle Derivate globaler Mega-Trends“ (etwa: Urbanisierung, New Work, Konnektivität, Gesundheit, Gender Shift …) sorgen letztere für Orientierung, erleichtern Entscheidungen und stiften Identifikation. 

Klingt etwas zirkulär und ist es wohl auch. Schönes Thema für Psychologen und Philosophen: Auf dem einsamen Grat der Freiheit spaziert es sich ganz ohne Haltepunkte nicht unbedingt immer gemütlich.

„Der Mensch ist nicht mehr nur das, was er isst, sondern immer mehr auch das, was er bewusst nicht isst.”

Hanni Rützler

Food-Forscherin

Mahlzeiten neu verhandelt

Doch was kristallisiert sich konkret heraus? „Heute wird neu verhandelt, was eine Mahlzeit ist und was nicht.“ Längst nicht mehr verbindlich: das Schema Vorspeise, Hauptgang, Dessert. Gleiches gilt für die Rangordnung der Komponenten auf dem Teller – der sattsam bekannte Dreiklang aus tierischem Protein, Kohlehydraten & Grünzeug. Profiteur dieser schon vor einiger Weile eingesetzten Demontage?

Genau: der Snack. Vom Common Sense lange Zeit mit einem hartnäckigen Haut-Gout belegt. Was für unüberlegte Esser. Notlösung auf die Schnelle. Pauschal als eher ungesund eingeordnet. Mini-Mahlzeiten – Rützler prägt dafür das Kürzel Mimas – gehören gleichwohl zur ständigen Ernährungsroutine von immer mehr Verbrauchern. Heute jedoch gerne nicht nur schnell, sondern auch gesund und nachhaltig. Mit anderen Worten: die Snack-Mahlzeit hat ihr Schmuddelkind-Image so ziemlich hinter sich gelassen und ist im Begriff, sich zum neuen Paradigma unseres Ernährungsschemas aufzuschwingen. Noch dazu ist die Mima prädestiniert, als hilfreicher Trend-Indikator zu dienen. Denn: „Bei Mimas sind Konsumenten eher bereit, neue Gerichte, Aromen und Texturen auszuprobieren.“ Rützlers Empfehlung: „Gastronomen sollten verstärkt auf variable Portionsgrößen, Transparenz und flexible Öffnungszeiten setzen.“

Urban Food

Nicht neu, dass Verbraucher zunehmend für regionale Produkte empfänglich sind. Rützler konstatierte schon im letzten Food Report ein wachsendes Interesse an Lokalität – Stichwort: Brutal Lokal. Der nächste Schritt: vom Konsumraum zum Produktionsraum Stadt. Stimmt: Die Vereinten Nationen schätzen, dass bis 2050 weltweit fast 70 % aller Menschen in Städten leben werden. Macht immerhin mehr als 6,5 Milliarden Stadtbürger. Neben Landwirten werden – ermöglicht durch neue Technologien – in Zukunft mehr und mehr Stadtbauern die urbane Bevölkerung mit Lebensmitteln versorgen, so die Prognose. Dazu ist jede Menge Hightech erforderlich. „Vertikale Farmen, schwimmende Ställe, Brutbanken für Insektenzucht, Cultured Meat und Cultured Fish.“

Lebensmittel, die unabhängig von Saison und Wetter erzeugt werden. Avancierte Technologien, um das Flächenproblem zu lösen. Die Mitwirkung von Architekten, Stadtplanern. Überzeugungsarbeit, um die Verbraucherakzeptanz zu fördern. Trendforscher müssen ja nicht werten. Sondern nur aufzeigen, was aller Voraussicht nach auf uns zukommt. Vermutlich müssen wir, um das globale Ernährungsproblem zu bewältigen, unsere Vorstellungen von Natur und Nahrungsmitteln in der Tat, wie Rützler festhält, gründlich und (Anmerkung der Autorin) leider Gottes über den Haufen werfen.

Food Report 2020

2020 – Revolution der Esskultur: Das Ende der Mahlzeiten, wie wir sie kennen, steht bevor. Wie werden wir essen, was werden wir zu uns nehmen und was hat das mit Kunst zu tun? Hanni Rützler eröffnet im siebten Food Report den Blick auf den Wandel der Ernährungs- und Esskultur. Herausgeber ist das Zukunftsinstitut in Kooperation mit der Lebensmittel Zeitung, gv-praxis und foodservice (dfv Mediengruppe). Der neueste Food Report 2020 ist hier erhältlich.

Beyond Plastic

Endlich halbwegs im Bewusstsein der Verbraucher angekommen: Die unfassbaren Mengen an Plastikmüll, die den Globus und insbesondere seine Meere überschwemmen, sind ein höchst brisantes Umweltproblem. Weil das Zeugs so unendlich lange haltbar ist und ewiglich als Mikroplastik überlebt. Ein brisantes Thema, dem der Food Report 2020 erstmals ein eigenes Kapitel widmet. „Selbst einflussreiche Umweltorganisationen wie Greenpeace, WWF oder Friends of the Earth“, konstatiert Rützler, „hatten bis 2015 noch keine expliziten Anti-Plastik-Kampagnen.“ Naja. NGOs wie der NaBu Deutschland, zugegeben weniger einflussreich, hatten schon einige Jahre zuvor das Thema Meeresverschmutzung durch Plastikmüll auf die Tagesordnung gesetzt.

Vergebens. Es ist noch ein langer Weg in die Post-Plastic- und Zero-Waste Ära. Die Konsumenten haben es eigentlich in der Hand. Nur müssen sie wachgerüttelt werden. Am besten, so Rützler, sie spüren es am eigenen Leib. „Wenn Plastikteilchen unsere Nahrung kontaminieren, blicken wir besonders genau darauf, wie die Food & Beverage-Branche mit Kunststoff umgeht.“

Hanni Rützler zählt zu den einflussreichsten Foodtrendforschern Europas. Gemeinsam mit dem Zukunftsinstitut und der Lebensmittel Zeitung veröffentlicht sie jährlich den Food Report. „Was in Rützlers Foodreport steht, dafür rüsten sich Lebensmittelhersteller, Kochzeitschriften und Gastronomen“, rezensierte kürzlich das deutsche Wirtschaftsmagazin brandeins. Fotos: Nicole Heiling. 

Gigantische Aufgabe

220,5 kg Verpackungsmüll pro Kopf, verweist Rützler auf Statistiken des Umweltbundesamtes, wurden 2016 in Deutschland produziert. Davon immerhin knapp 25 kg Plastikabfall. Bitte mal mit 85 Millionen Menschen oder so multiplizieren. Die Aufgabe ist gigantisch – und dringlich. Rützler spricht zu Recht vom überforderten Konsumenten, stellt Statistiken vor, die erheblichen Aufklärungsbedarf illustrieren. Zeigt aber auch Wege bzw. Initiativen auf, die Mut machen. Beyond Plastic: ein Kapitel, das man keinesfalls nur überfliegen sollte.