Antje de Vries hat ein Faible für süße Früchtchen: Ihr erstes Wort war „Erdbeere”. Sie trägt eine Mango als Tattoo und eine Honigmelone änderte von jetzt auf gleich ihr Leben. Dass die gebürtige Ostfriesin einmal Köchin werden würde, war trotz dieser offensichtlicher Affinität zu Lebensmitteln nicht immer ausgemachte Sache. Für ein Porträt, das als Cover-Story der Zeitschrift Fizzz erschien, hat sie uns erzählt, wie ihr Weg zur Expertin für pflanzliche und nachhaltige Küche verlaufen ist, warum sie keine Wohnung hat und wie sie mit Kochen und Essen Menschen auf der ganzen Welt miteinander verbindet.
„Bei uns gab es einfaches Essen zu Hause, es ging nicht um Gastronomie oder Haute Cuisine”, erzählt die 41-Jährige beim spontan improvisierten veganen Lunch in der Frankfurter Küche der Agentur F&B Heroes. „Vielmehr waren es die einfachen und natürlichen Lebensmittel, die mich immer schon begeistert haben.” Als Enkelin eines der letzten Krabbenfischer in ihrer küstennahen Heimat genoss sie die solide Hausmannskost ihrer beiden Großmütter in einer Familie, in der zwar gerne und viel gegessen wurde, sich Restaurantbesuche aber auf Abstecher zum Chinesen oder Italiener beschränkten.
Appetit auf das Ursprüngliche
„Ich war schon als Kind fasziniert von den verschiedenen Apfelbäumen in unserem Garten”, erinnert sie sich. „Da wuchs etwas Neues, jede Frucht schmeckte anders, das hat mich interessiert.”
Neben dem Appetit auf das Ursprüngliche verspürte die junge Antje auch früh eine unbändige Sehnsucht nach Abenteuern in der Ferne. So entschied sie sich mit 16 Jahren für ein Austauschjahr in Texas und fand sich einen Langstreckenflug später in einer völlig anderen Welt wieder – mit lauter exotischen Lebensmitteln. „Ich war komplett reizüberflutet und fühlte mich fremd”, erzählt sie von ihrem ersten Tag in Amerika. „Und dann war da bei 45 Grad Hitze dieser Marktstand mit Honigmelonen. Ich probierte ein Stück und seitdem war alles anders”, erzählt sie. „Nie zuvor hatte ich so etwas gegessen. Ich war verliebt!” So einschneidend veränderte dieses Erlebnis ihren Blick auf Lebensmittel, dass sie beschloss: Food ist mein Medium, um mich auszudrücken, Spuren zu hinterlassen und einen Unterschied zu machen.
„Es ist unheimlich wichtig für einen Koch, der Verantwortung trägt für das Wohlbefinden seiner Gäste, wenn nicht der ganzen Gesellschaft, etwas über Ernährung und Gesundheit zu wissen.“
Restaurant im Wohnzimmer
Kochen und Essen als soziales Event, als Weg, Menschen ins Gespräch zu bringen, damit sie voneinander lernen, Unterschiede überwinden und etwas Gutes schaffen können, ist seither Antje de Vries’ Mission und ihr Antrieb. Das begann schon kurz nach dem folgenschweren Biss in die Melone: „Um Freunde zu finden, habe ich ständig für meine texanischen Schulkameraden gekocht und gebacken. Zusammen mit meiner Gastmutter, die eine eher spröde Frau war, führte ich sogar ein kleines ‚Restaurant’ in ihrem Wohnzimmer. Ich war 16, sie 60 Jahre alt. Die Liebe zum Kochen war unsere einzige Gemeinsamkeit und hat uns zusammengebracht”, sagt Antje de Vries. Auf dem Rückflug aus Texas hatte sie zwei Kladden voll mit Rezepten im Gepäck.
Essen als „Liebessprache“
Nach wie vor ist Essen für sie ihre “Liebessprache”, wie sie es etwas blumig, aber mit echter Leidenschaft ausdrückt. Nach der Kochlehre in einem Bremer Sternerestaurant, bei der ihre Passion so manches Mal mit den harten Realitäten der Branche kollidierte, stillte sie ihren Wissensdurst in Bezug auf die Natur und die dazugehörigen Wissenschaften beim Studium der Ökotrophologie mit Schwerpunkt Wirtschaft, für das sie sogar ein einmonatiges Stipendium am US Institute of Culinary Art sausen ließ. „Dass ich als Köchin ein wissenschaftliches Studium zur Ernährung beginnen wollte, galt als ‚Verlassen der Branche’. Deshalb wurde mir das Stipendium gestrichen”, ärgert sie sich bis heute.
„Ich erzähle den Leuten nicht, was wir Tolles in Deutschland machen und dass sie das jetzt auch tun sollen. Denn deren Methode ist meistens sogar effizienter und nachhaltiger.”
„Dabei ist es doch eigentlich unheimlich wichtig für einen Koch, der Verantwortung trägt für das Wohlbefinden seiner Gäste, wenn nicht der ganzen Gesellschaft, etwas über Ernährung und Gesundheit zu wissen!”
Umgekehrt habe an der Universität niemand verstanden, warum eine Köchin unbedingt studieren wollte. „Dieser Konflikt steht in meinen Augen beispielhaft dafür, wie die Branche Gastronomie (miss-)versteht”, findet de Vries.
Sehnsucht nach der Küche
Trotz des Studiums ließ sie die Sehnsucht nach der Küche nicht los. So briet sie unter anderem Würste bei Opel in Rüsselsheim und traf bei einem Event Heiko Antoniewicz – dessen Arbeit sie schon immer bewunderte – und bat darum, von ihm zu lernen, sodass er sie als kochende Werksstudentin einstellte.
Schüchternheit ist Antje de Vries fremd: „Wenn ich jemanden sehe und spüre, dass man gemeinsam etwas bewegen könnte, gehe ich hin und spreche ihn an. Das ist wie vom 10-Meter-Brett zu springen. Während ich noch darüber nachdenke, ob es eine gute Idee ist, rede ich schon”, verrät sie schmunzelnd. Auf die gleiche Weise lernte sie später auch Jean Ploner kennen, als Berater ein Urgestein der Branche und inzwischen einer ihrer Partner beim Frankfurter Consulting Unternehmen F&B Heroes.
Kulinarische Nomadin
Mit Mitte 20 stand sie als Mitarbeiterin im Marketing von Deutsche See vor bis zu 80 Vertrieblern, leitete Seminare mit Eckart Witzigmann und Bobby Bräuer. Anschließend führte sie ein Gutscafé, buk ohne Rezepte Kuchen und Torten für 200 Gäste am Tag. „Eine wilde, eine prägende Zeit. Aber im Rückblick zu intensiv, mit zu viel Druck.” Eine private Sinnkrise führte sie schließlich als Küchenchefin nach Norwegen – und von dort zu dem Leben als kulinarische Nomadin, das sie seit fast neun Jahren führt.
Auf der ganzen Welt zu Hause
Denn Antje de Vries’ Zuhause ist die ganze Welt. Ohne festen Wohnsitz und viel Besitz reist sie an Orte wie Bali, Sierra Leone und Kolumbien, um dort mit den Menschen zu kochen. Ist sie in Deutschland, nächtigt sie bei Freunden, auch mal in Zügen oder im Büro der F&B Heroes im Frankfurter Gallusviertel, wo sie in einer Kommode heimlich ihre Habseligkeiten verwahrt. „Mir reicht eine Isomatte zum Schlafen. Neulich musste ich innerhalb von 20 Minuten packen, um nach Sierra Leone zu fliegen”, erzählt sie. Also Zahnpasta, Insektenschutz und ein Kleid in den kleinen Rucksack und ab zum Flughafen. „Es war Ramadan und meine Kolleginnen in der Schneiderei in Port Loko wissen am besten, was ich da anziehen kann. Sie haben mir spontan etwas Passendes genäht. Es ist doch viel schöner, vor Ort die gleiche Kleidung wie die Einheimischen zu tragen!“
„Traditionelle Lebensentwürfe passen nicht für jeden. Um das zu tun, was ich tun möchte, brauche ich die Freiheit, jederzeit dorthin zu gehen, wo die Menschen sind.“
Essen verbindet Menschen
In Sierra Leone unterstützt sie mit der gemeinnützigen Organisation PfefferminzGreen von Stella und Steen Rothenberger lokale Initiativen im Kampf gegen die Genitalverstümmelung. „Die Frauen, die zuvor als Beschneiderin gearbeitet haben, verdienen jetzt ihr Geld als Schneiderin”, berichtet Antje de Vries mit leuchtenden Augen. In einem Kochbuch will sie diese Frauen demnächst porträtieren, ihre Rezepte und Geschichten erzählen und so die Aufmerksamkeit und Spendenbereitschaft der Leser wecken. In Kolumbien ist sie für die Schweizer „Cuisines Sans Frontières” ebenfalls im Einsatz, um Menschen und Wissen durch Essen zu verbinden.
Fast noch mehr als darum, eigenes Wissen weiter zu geben, geht es ihr dabei ums selber Lernen – zum Beispiel, wie man Ziegelsteine für einen Schulneubau herstellt. „Ich erzähle den Leuten nicht, was wir Tolles in Deutschland machen und dass sie das jetzt auch tun sollen. Denn deren Methode ist meistens sogar effizienter und nachhaltiger.” Was sie auf Bali übers Kochen lernt, gibt sie in Kolumbien weiter: „Ich liebe es, regionale Produkte mit exotischen Methoden zu verbinden und dabei die Wertschöpfungsketten nachhaltig zu gestalten.”
Sesshaftigkeit ist kein Thema
Dass dieses Dasein für eine Frau Anfang 40 mindestens ungewöhnlich ist, weiß Antje de Vries. „Traditionelle Lebensentwürfe passen nicht für jeden. Um das zu tun, was ich tun möchte, brauche ich die Freiheit, jederzeit dorthin zu gehen, wo die Menschen sind. Mit einer Familie wäre das sicher herausfordernder und auch eine Wohnung würde mich zurzeit nur belasten.” Aktuell ist Sesshaftigkeit kein Thema. Woher kommt diese Abenteuerlust? „Von meinem Vater, einem Bauchmenschen wie ich”, ist Antje de Vries sicher. „Er war ein Seebär und wollte die Welt sehen – leider ist er zu früh gestorben. Das ermutigt mich, Dinge nicht aufzuschieben, sondern loszufahren, bevor es zu spät ist, und auch mal was zu riskieren.”
Die Full Service Agentur F&B Heroes begleitet Entscheider in der Hospitality-Branche bei der Entwicklung von Strategien, Konzepten und der Realisierung von gastronomischen Projekten. Von links im Uhrzeigersinn: Friederike Bothe, Jean Ploner, Tim Plasse, Antje de Vries, Uwe Plappert.
An ihren Vater denkt sie auch bei der Frage nach ihrer Heimat. „Das Meer”, lautet die Antwort. „Mit seinem Zusammenspiel aus Bewegung und Konstanz ist es immer da, aber immer anders. Ich versuche, so oft wie möglich dort zu sein.” Auch Menschen sind für Antje de Vries’ Heimat, die Freunde, auf deren Sofa sie bei Bedarf immer einen Platz findet. Ihren unternehmerischen Hafen hat sie vor rund fünf Jahren bei den F&B Heroes gefunden. „Hier habe ich die Möglichkeit, meine Mission zu skalieren.“
Positive Emotionen und exotische Details
Die Partner der Agentur bündeln ihre ganz unterschiedlichen Perspektiven auf die Hospitality-Branche, um ihren großen und kleinen Kunden ganzheitliche Unterstützung bei der Schaffung wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltiger Gastronomie zu bieten. Antje de Vries’ Fokus liegt auf der Entwicklung kulinarischer Konzepte und Identitäten, wobei die pflanzenbasierte Küche ihr ein besonderes Anliegen ist. „Voller positiver Emotionen, naturnah, mit exotischen Details”, beschreibt die „Pflanzenaktivistin” ihren Stil.
„Die Gastronomie hat einen hohen Impact, wenn es um den Klimaschutz geht. Wir können mit kurzfristigen Änderungen sehr positive Effekte erreichen”
Ohne Restaurant, ohne eigene Küche, immer unterwegs – ist man da eine richtige Köchin? „Das Kochen ist mein Schlüssel, Einfluss zu nehmen, etwas zu verändern, auch ohne eigene Küche. Man hat im Leben nicht viele Pferde, auf die man setzen kann. Ich habe das Glück, instinktiv auf das richtige gesetzt zu haben.” Die F&B Heroes verschaffen ihr Sichtbarkeit und Zugang zu Entscheidern, die diese Transformation in der Lebensmittelbranche vorantreiben können. „Die Gastronomie hat einen hohen Impact, wenn es um den Klimaschutz geht. Wir können mit kurzfristigen Änderungen sehr positive Effekte erreichen”, ist de Vries überzeugt. „Leider wird der gefährliche Satz ‚Das haben wir immer schon so gemacht’ immer noch zu selten hinterfragt. Dabei brauchen wir neue Herangehensweisen für die anstehenden Umbrüche.”
Mehr emotionale Diversität
Für die Zukunft der Branche wünscht sie sich mehr Diversität – auch emotionale. „Man muss sich nicht schämen, auch mal Schwäche zu zeigen. Die Küche ist ein gefühlsgeladener Ort, das sollten wir mehr zelebrieren und gleichzeitig menschenfreundlichere Arbeitsumfelder schaffen – losgelöst von Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht. Denn Essen verbindet uns alle.”
Fotos: F&B Heroes
Barbara Schindler entdeckte schon früh ihre Lust am Schreiben. Mit 16 stand für sie fest: Ich will das Geschichtenerzählen zum Beruf machen, werde Journalistin. Mit einem Studium der Musikwissenschaft, Anglistik und Romanistik orientierte sie sich in Richtung Feuilleton, landete dann aber nach einigen Umwegen beim Fachjournalismus mit Schwerpunkt Gastronomie. Seither berichtet sie – zunächst als festangestellte Redakteurin bei der Fachzeitschrift Food-Service, seit Sommer 2018 freiberuflich – über alle Aspekte der Branche. Barbara Schindler ist verheiratet und lebt in Frankfurt am Main.