Was sind die Food Trends im Jahr 2023? Welche Verbraucherwünsche werden Angebot und Nachfrage bestimmen? Und wie lassen sie sich mit der Notwendigkeit einer nachhaltigeren Ernährung in Einklang bringen wie sie die Planetary Health Diet propagiert? Diesen Fragen ging Jörg Reuter vom Food Campus Berlin in einem Webtalk nach. Sein Resümé: Auch in Zeiten der Krisen und des Klimawandels wird Essen niemals zur reinen Vernunftsache, weshalb „vernünftige“ beziehungsweise nachhaltigere Produkte immer auch genussvoll sein müssen. „Es wird in den kommenden Jahren darum gehen, Hedonismus und tröstendes Soul Food mit einer der menschlichen und planetaren Gesundheit dienlichen Ernährungsweise zu verbinden.“
Reuter analysierte die aktuellen Entwicklungen in der Lebensmittelbranche anhand eines Koordinatensystems mit den vier Eckpunkten Bauch (Intuition) – Kopf (Vernunft) – inszenieren (begeistern) und konsumieren (entlasten). „2022 war kein Jahr für schwache Nerven. Umso mehr müssen wir schauen, wo wir 2023 optimistisch sein können und wo sich Perspektiven abzeichnen“, richtete er den Blick voraus und präsentierte vier Thesen zur Zukunft der Branche:
These 1: Das große Bild zählt.
„Manchmal sehne ich mich nach den Zeiten zurück, als Kurkuma der aufregendste Food Trend war“, bezog sich Reuter auf eine Trendprognose aus dem Jahr 2016. „Heute reden wir nicht mehr über angesagte Nudelformen oder Gemüsesorten, sondern blicken sehr viel grundsätzlicher auf die Entwicklungen in der Lebensmittelproduktion.“
Zu diesen gehört für den Geschäftsführer des – noch virtuellen – Food Campus Berlin unbedingt die Planetary Health Diet der EAT Lancet Kommission, die eine Ernährungsweise empfiehlt, die sowohl den menschlichen Körper gesund hält als auch die Ressourcen des Planeten nicht überfordert.
Allerdings, so räumte Reuter ein, ist die Entwicklung hin zu einer Ernährung, die diese beiden Ziele verbindet, noch ganz am Anfang. „Wenn wir die Planetary Health Diet ernst nehmen, was wir müssen, brauchen wir einen 50-prozentigen Austausch tierischer gegen planzliche Proteine.“ Laut Boston Consulting Group liege das Potential für pflanzliche Proteine im deutschen Markt selbst bei optimistischen Annahmen bis 2035 allerdings bei maximal 22 Prozent.
50 % unseres heutigen Verbrauchs an tierischen Proteinen müssten für eine nachhaltige Ernährungsweise durch pflanzliche Alternativen ersetzt werden. Laut BCG wird dies aber selbst im optimistischsten Fall bis 2035 nur bei 22 % gelingen. Realistischer sind 11 %.
Auf TikTok trenden stylishe Wurstplatten
Den Realitäts-Check machte Reuter auf der Social Media-Plattform TikTok: Dort landeten bei den Food Trends des Jahres opulent hergerichtete Charcuterie Boards auf dem vierten Platz. Die gute alte Wurstplatte – in stylish! – verzeichnete in dem vor allem von jungen Menschen genutzten Netzwerk 1,3 Mrd. Aufrufe des entsprechenden Hashtags. Auch auf Instagram widmen sich mehr als 2 Mio. Beiträge dem Phänomen. Auf Platz acht bei Tiktok: sogenannte Butter Boards – mit Butter bestrichene Bretter, auf denen üppige Toppings präsentiert werden. „Das ist völlig konträr zu dem, wovon wir eigentlich ausgehen, dass die Reise hingeht“, stellte Reuter fest. „Die Planetary Health Diet spielt hingegen in den sozialen Netzwerken oder auf Google überhaupt noch keine Rolle.“
Stylishe Wurstplatten sind aktuell im Netz deutlich gefragter als die Planetary Health Diet.
Soll die Planetary Health Diet in der Breite der Bevölkerung akzeptiert werden, dürfe man deshalb die Themen Bauch und Inszenierung nicht unterschätzen, hob Reuter hervor. „Das Charcuterie Board trifft in unserem Koordinatensystem genau die Mitte zwischen Bauch und Inszenierung, wohingegen die Planetary Health Diet stark auf der Kopfseite verankert ist.“
Die Aufgabe laute, diese anscheinend so vernunftgeprägte Ernährungsweise attraktiver zu inszenieren. „Denn wir werden nicht darum herumkommen, die Planetengesundheit – ebenso wie unsere eigene – bei unserer Ernährung mitzudenken.“ Als Beispiel für eine gelungene Inszenierung nannte Reuter die Burger King-Kampagne „Normal oder mit Fleisch“. „Unabhängig von dem durch die RTL-Recherchen ausgelösten Skandal um die fehlerhafte Umsetzung des fleischfreien Ansatzes ist diese Kampagne schlau gemacht, weil sie sowohl den Kopf als auch den Bauch anspricht.“
These 2: Mehr Bauch!
Denn darum gehe es: „Was wir brauchen, ist eine Kombination aus der Sexiness der Charcuterie Boards und der vernünftigeren Planetary Health Diet“, forderte Reuter. „Leider fehlen dafür noch Mut und Ideen.“ Dabei sei die Planetary Health Diet mit ihrem reduzierten Fleischverzehr gegenüber der veganen Ernährung im Vorteil, weil weniger verzichtgeprägt. Denn: „Es wird keine Welternährung ohne Tierhaltung geben“, ist Reuter sicher.
These 3: Kein Erfolg ohne Kopf und Vernunft.
Gleichzeitig, so Reuter, kommen die Innovationen für eine nachhaltigere Ernährung aus der rationalen „Kopf-Ecke“, sprich: der Wissenschaft, die daran arbeitet, die neuen Produkte mehrheitsfähiger zu machen. „Wir sehen immer mehr Plant-based-Produkte mit kürzeren Zutatenlisten, kultiviertes Fleisch und Fisch sowie pflanzliche Produkte aus dem Bioreaktor oder Präzisionsfermentation. Diese werden Azkeptanz tierfreier Alternativen erhöhen,“ prophezeit Reuter. „Allerdings müssen sich die Begrifflichkeiten verändern, wenn man weiter in den Mainstream möchte.“ Entscheidend sei, die Hemmschwellen in den Köpfen zu überwinden. Insektenproteinen attestierte er dabei keine Chance, in den nächsten Jahren für die menschliche Ernährung in der DACH-Region eine Rolle zu spielen: „Kulturell ist das einfach zu weit von uns weg. Aber bei der Tiermast sind Insekten superspannend!“
Genuss und Vernunft in Einklang bringen – das ist die Anforderung an innovative und nachhaltige Food-Produkte für die breite Masse.
Neben Transparenz und weitestmöglicher Naturbelassenheit ist laut Reuter auch der Preis für den Erfolg alternativer Proteine ausschlaggebend – allerdings nicht in einem Maße, wie man es erwarten könnte. „Pflanzliche Ersatzprodukte sind eine der wenigen Kategorien im Food-Markt, die wachsen – trotz relativ hoher Marktpreise. Für mehr Akzeptanz in der Breite brauchen wir aber neben Preisparität auch Texturparität und Geschmacksparität.“
These 4: Der Erfolg liegt in der Balance
Deshalb, fasst Reuter zusammen, laute das Erfolgsrezept für eine nachhaltigere Ernährung im Sinne der Planteray Health Diet, Produkte und Konzepte mit einer möglichst ausgewogenen Balance zwischen den Polen konsumieren und inszenieren, Bauch und Kopf zu entwickeln. Als Beispiel nennt er unter anderem die veganen Königsberger Klopse, die auf der Berlin Food Night im vergangenen Jahr serviert wurden. „Sie trafen ziemlich genau die Mitte unseres Koordinatensystems: Während der Kopf sich darüber freut, dass sie keine tierischen Proteine enthalten, begeistert sich der Bauch für die schlotzige Konsistenz und den gelernten Geschmack dieses typischen Gerichts, das uns dank seiner Vertrautheit emotional entlastet.“
Weitere gut ausbalancierte Produkte seien auf die Planetary Health Diet abgestimmte, conveniente Tiefkühlgerichte mit bewusst hohem Anteil an Gemüse und Hülsenfrüchten oder Nuss-Mühlen, die mit unkompliert herzustellendem Nussmuss die Integration von Nüssen in eine ausgewogene Ernährung erleichtern.
„Wir brauchen Preisparität, Geschmacksparität und Texturparität.“
Produkte, die ins Herz gehen
Reuter zitierte Trendprognosen des niederländischen Food Inspiration Magazine, das davon ausgeht, dass Klimaneutralität für Lebensmittel in Zukunft nicht mehr ausreicht, stattdessen Klimapositivität zur Bedingungen wird. Auch die Kochhelden in den Medien seien längst nicht mehr die schrillen Lautsprecher, sondern treten nachdenklich und verantwortungsvoll auf.
Abschließend zeigte Reuter sich optimistisch: „Bio und Nachhaltigkeit wurden schon oft totgesagt. Aber wenn es uns gelingt, mit Produkten, die nicht nur Kopf und Bauch ansprechen, sondern direkt ins Herz gehen, Hedonismus und Soul Food mit der Planetary Health Idee zu verbinden, haben wir eine ziemlich gute Chance auf ein Lebensmittelsystem, das den Planeten nicht überfordert und auch unserer eigenen Gesundheit dient.“
Barbara Schindler entdeckte schon früh ihre Lust am Schreiben. Mit 16 stand für sie fest: Ich will das Geschichtenerzählen zum Beruf machen, werde Journalistin. Mit einem Studium der Musikwissenschaft, Anglistik und Romanistik orientierte sie sich in Richtung Feuilleton, landete dann aber nach einigen Umwegen beim Fachjournalismus mit Schwerpunkt Gastronomie. Seither berichtet sie – zunächst als festangestellte Redakteurin bei der Fachzeitschrift Food-Service, seit Sommer 2018 freiberuflich – über alle Aspekte der Branche. Barbara Schindler ist verheiratet und lebt in Frankfurt am Main.