2016 sorgten die beiden Freundinnen Leoni Beckmann und Anette Keuchel für einigen medialen Rummel: Damals eröffneten sie mit ihrem 2015 gegründeten Verein Restlos Glücklich Deutschlands erstes Restaurant, in dem ganze Menüs ausschließlich mit Lebensmitteln gekocht wurden, die vor der Mülltonne gerettet wurden. „Das Restaurant war unsere Plattform, mit der wir bewiesen haben, dass das möglich ist, aus diesen qualitativ noch hochwertigen Lebensmitteln etwas sehr Gutes zu machen – und welche absurden Mengen im deutschen Handel weggeworfen werden. Die große Aufmerksamkeit, die wir damit erreicht haben, hat uns sehr geholfen, die Dimension des Problems der Verschwendung in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken“, erklärt Hanna Legleitner, heute Geschäftsführerin des Vereins. Mit dem Erfolg wuchsen der Wunsch und die Nachfrage, das Wissen über die Vermeidung von Lebensmittelabfällen weiterzugeben. Der Verein verlegte seine Aktivitäten auf ein vielfältiges, interaktives Bildungsangebot, mit dem er heute sogar Menschen in Fernost und Südafrika zu Lebensmittelrettern macht.
Food Waste ist nicht nur eine Problematik der zu geringen Wertschätzung für Lebensmittel: Unsere überschüssige Nahrung stellt durch Wasserverbrauch, CO2-Ausstoß und Bodenschäden bei der Erzeugung auch eine große Belastung für das Klima dar. Für mehr als die Hälfte des Abfalls sind Privathaushalte verantwortlich.
Das Restaurant, mit dem der Verein startete und das unter anderem mit dem Bundespreis für Engagement gegen Lebensmittelverschwendung ausgezeichnet wurde, gibt es schon seit 2017 nicht mehr. Nicht, weil die Nachfrage zu gering gewesen wäre: „Wir waren sogar ziemlich erfolgreich“, erzählt Legleitner. „Aber die Mitarbeiter waren überwiegend ehrenamtlich tätig, wir mussten zwischendurch den Standort wechseln, haben bis zu acht Mal pro Woche Lebensmittel bei unseren Partnern im LEH abgeholt – irgendwann wurde es einfach zu viel.“ 2018 verlegte man sich deshalb auf Pop-up-Dinner aus geretteten Lebensmitteln an unterschiedlichsten Locations in Berlin. „Ein festes Menü und eine vorher bekannte Gästezahl waren für uns deutlich unkomplizierter zu organisieren als der tägliche Restaurantbetrieb mit all seinen Unwägbarkeiten“, erklärt Legleitner.
Viele Fragen blieben offen
Allerdings merkten die Mitarbeiter auch hier: Serviert man den Gästen einfach nur das Essen aus geretteten Zutaten, bleiben bei diesen viele Fragen offen. Schließlich ist die Lebensmittelverschwendung in Privathaushalten ein noch viel größeres Problem als in der Gastronomie. „Wir merkten, dass es wichtig ist, den Menschen mehr Wissen über das Thema Lebensmittelretten zu vermitteln, ihnen mehr mitzugeben, als es in einem Restaurantbetrieb möglich ist, und sie über unsere Expertise zu animieren, selbst mitzumachen“, sagt Legleitner.
Das Restlos-Rad – eine mobile Fahrradküche – tourt seit Kurzem durch Berlin: Darauf zaubern die Vereinsmitarbeiter aus geretteten Lebensmitteln klimaverträgliche Köstlichkeiten und präsentieren kreative Möglichkeiten der abfallreduzierten Ernährung. Daneben informiert der Verein gemeinsam mit Projektpartnern über die Vorteile und die richtige Verwendung der Biotonne.
Wer auf das Restlos-Glücklich-Smoothie-Bike steigt und in die Pedale tritt, erfährt am eigenen Leib: Es gibt keinen nachhaltigeren Weg, als mit deiner Muskelkraft einen Shake oder sogar Pesto aus geretteten Lebensmitteln zu mixen. Bei interaktiven Spielen können die Teilnehmer herausfinden, wie fit sie bei der Abfalltrennung sind und wie einfach und lecker richtige Resteverwertung ist.
Heute kümmern sich die 16 Mitarbeiter des Vereins und unzählige ehrenamtliche Helfer deshalb in erster Linie um Bildungsarbeit. Das Ziel: Lebensmittelverschwendung insgesamt und über alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche hinweg zu reduzieren. „Vor Corona haben wir fast täglich Workshops, Kiezküchen, Kita- und Schulprojekten bis hin zu Incentives in Unternehmen organisiert. Mit den verschiedenen Formaten erreichen wir ein breites Spektrum an Menschen – vom Kleinkind bis zum Vorstandsvorsitzenden“, berichtet Legleitner. Fast alle Angebote haben eines gemeinsam: Sie laden die Teilnehmer zum Selbermachen ein!
Politische Arbeit wie hier mit Ex-Ministerin Renate Künast gehört zu den selbstgestellten Aufgaben von Hanna Legleitner (2.v.l.) und ihrem Team. Alle Fotos: Restlos Glücklich
3-4 Rettungen pro Woche
„Wir zeigen den Teilnehmern ganz konkret, was man alles aus einem schon etwas härteren Brot oder einem Apfel mit einer matschigen Stelle machen kann“, erläutert die Geschäftsleiterin. „Das Umdenken funktioniert am besten, wenn man mit den entsprechenden Produkten arbeitet.“ Immer noch kommen dabei Lebensmittel aus drei bis vier „Rettungen“ pro Woche zum Einsatz. Hauptpartner im LEH sind die denn’s Biomärkte.
Was genau gekocht wird, entscheidet sich häufig kurzfristig – je nach Verfügbarkeit. „Wenn die Menge der geretteten Zutaten nicht ausreicht oder ein Produkt fehlt, kaufen wir zusätzliche Ware ein“, erklärt Legleitner. „Wir sind sogar froh, wenn bei unseren Handelspartnern wenige Reste anfallen.“ Bedingung für die Zukäufe: Saisonale Bio-Qualität aus der Region muss es sein. Denn, so Legleitner: „Das große Ziel heißt klimaverträgliche Ernährung.“
Beim School Lunch – dem Workshop über den Wert von Lebensmitteln an Berliner Schulen – bringt Restlos Glücklich den Kindern den Wert von Lebensmitteln spielerisch nahe und vermittelt ihnen, welchen Einfluss das aufwendige Produzieren von Lebensmitteln und das eigene Konsumverhalten auf die Umwelt hat. Höhepunkt des Workshops ist das gemeinsame Kochen mit aussortierten, aber einwandfreien Lebensmitteln aus dem Bio-Supermarkt. Ein besonderes Erlebnis ist es, anschließend das selbst zubereitete Menü zusammen zu genießen.
Ein Gefühl für Lebensmittel bekommen
Fleisch und beispielsweise Avocados, für deren Produktion sehr viel Wasser und andere Ressourcen aufgewendet werden, oder weitgereiste Lebensmittel stehen daher nur in Ausnahmefällen auf dem Einkaufszettel. „Im Berliner Umland wird eine ungeheure Vielfalt an sehr schmackhaften Produkten erzeugt. Wir müssen als Gesellschaft wieder lernen, wie man sie zubereitet und wann sie normalerweise geerntet werden.“ Heißt: Erdbeeren nur im Frühsommer, Paprika ausschließlich von Juli bis Oktober? „Auf die Spargelsaison warten schließlich auch alle gerne“, kommentiert Legleitner.
Damit die Großstadtbewohner wieder ein Gefühl dafür bekommen, wie ihre Supermarktlebensmittel tatsächlich erzeugt werden, lud der Verein im vergangenen Jahr die Berliner zur Nachernte auf den Acker: „In 1,5 Stunden haben wir rund 250 kg Kartoffeln eingesammelt, die sonst auf dem Feld geblieben wären“, berichtet Chefin. Die reiche „Beute“ wurde anschließend auf dem Berliner Alexanderplatz öffentlich zu Pommes frites aus dem Backofen verarbeitet: „Damit wollten wir zeigen, dass auch Fast-Food klimafreundlicher sein kann, wenn zum Beispiel auf das Frittieren und die Tiefkühlung verzichtet wird.“
Die Aktionen von Restlos Glücklich im öffentlichen Raum und die Vereinsfarbe Pink bleiben bei den Teilnehmern im Gedächtnis. Wissensvermittlung ohne erhobenen Zeigefinger und verkrampftem Aktivismus, dafür mit positiver Attitüde und guter Laune – diese Mischung kommt nicht nur bei den Berlinern an. In den vergangenen fünf Jahren hat der Verein so etwa 49 Tonnen Lebensmittel vor der Mülltonne bewahrt und rund 35.000 Menschen in ganz Deutschland zu „Lebensmittelrettern“ ausgebildet. „Wir möchten noch weiter in die Mitte der Gesellschaft“, sagt Hanna Legleitner, „damit die Problematik wirklich bei jedem ankommt.“
Förderung durch öffentliche Institutionen und Unternehmen
Fast alle Angebote sind übrigens für die Teilnehmer kostenlos. Finanziert wird das Ganze zu einem Großteil von politischen Institutionen wie dem Berliner Senat, aber auch immer mehr Unternehmen aus der Wirtschaft erkennen die Relevanz des Themas und fördern den Verein. Firmen, die ihr Betriebsrestaurant klimafreundlicher gestalten wollen, steht Restlos Glücklich gerne beratend zur Seite. Gefragt sind auch die „Mitmach-Caterings“, die von Unternehmen als Teambuilding-Events gebucht werden: „Da schnippeln und kochen dann die unterschiedlichsten Mitarbeiter vom CEO bis hin zum Hausmeister auf Augenhöhe mit geretteten Lebensmitteln. Beim Kochen kommen sie dann sehr leicht über verschiedene Hierarchieebenen ins Gespräch!“ Das steigert nicht nur die Wertschätzung für Lebensmittel, sondern hebt auch die Stimmung im Unternehmen.
Die Restlos Glücklich-Mitarbeiter werden außerdem häufig eingeladen, Vorträge zu Nachhaltigkeitsthemen bei Kongressen und Veranstaltungen zu halten, zunehmend sogar im Ausland. Auch als Teil der Initiative „Bündnis Lebensmittelrettung“ engagiert sich Restlos Glücklich gemeinsam mit Too good to go für die Reduzierung von Lebensmittelverschwendung im Handel und versucht, das Thema im Hinblick auf die nächsten Wahlen auf die Agenda der politischen Parteien zu bringen.
Die Vereinsgründerinnen Anette Keuchel und Leoni Beckmann.
Reichweite bis nach China und Südafrika
Seit Corona den Austausch und das Lernen voneinander ins Internet verlagert hat, finden viele Veranstaltungen von Restlos Glücklich als Online-Workshops statt. Deren Reichweite erstreckt sich mittlerweile um die halbe Welt bis nach China, Taiwan und Südafrika. So schulte der Verein im Sommer Lehrer und Lehrerinnen in Yilan (Taiwan), Peking und Johannesburg zur klimaverträglichen Ernährung und bildete die Schüler zu Lebensmittelrettern aus. „Mit Studenten aus Johannesburg und Pretoria haben wir in einer Zero-Waste Online Kitchen gemeinsam gekocht“, berichtet Legleitner, „und uns während eines Panels des Goethe-Instituts zum Thema „Nachhaltige Ernährung“ ausgetauscht.“
Mit Lernerfolgen auf beiden Seiten: „Bildung zu klimaverträglicher Ernährung muss ebenso lokal wie global verstanden werden. Wir können miteinander und voneinander lernen. Lebensmittelwertschätzung hat viel mit Empowerment zu tun: Wenn wir es in unseren interaktiven Workshops schaffen, dass sich schon die Kleinen als wichtige Akteure begreifen, dann wachsen sie über sich hinaus und erkennen, dass jedes Lebensmittel und jeder Einzelne zählt.“ Und dann wird vielleicht auch das Vereinsziel irgendwann Wirklichkeit: dass Restlos Glücklich restlos verschwindet, weil es keine Lebensmittelverschwendung mehr gibt.
Seit August erkunden die ersten Kitas in Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg die Schätze aus der Restlos-Glücklich-„Krümelkiste“: eine Sammlung verschiedenster Bildungsmaterialien, mit deren Hilfe Erzieher und Erzieherinnen über sieben Wochen die Themen „Wert unserer Nahrung“, „Lebensmittelverschwendung“ und „Kompostierung“ mit ihrer Vorschulgruppe erarbeiten können. Neben Workshop-Inspirationen und einem Wochenplan liefert ein Handbuch hilfreiches Hintergrundwissen und Tipps zur Umsetzung, die eine agile Einbettung in den Kita-Alltag ermöglichen.
Barbara Schindler entdeckte schon früh ihre Lust am Schreiben. Mit 16 stand für sie fest: Ich will das Geschichtenerzählen zum Beruf machen, werde Journalistin. Mit einem Studium der Musikwissenschaft, Anglistik und Romanistik orientierte sie sich in Richtung Feuilleton, landete dann aber nach einigen Umwegen beim Fachjournalismus mit Schwerpunkt Gastronomie. Seither berichtet sie – zunächst als festangestellte Redakteurin bei der Fachzeitschrift Food-Service, seit Sommer 2018 freiberuflich – über alle Aspekte der Branche. Barbara Schindler ist verheiratet und lebt in Frankfurt am Main.