Enigma – Rätsel – heißt das jüngste Restaurant der Adrià-Brüder in Barcelona. Und rätselhaft gibt es sich auch: Wer hinein will, braucht einen Code, der an der Eingangstür abgefragt wird. Der Gedanke an etwas Verbotenes, mindestens aber etwas sehr Geheimnisvolles begleitet den Gast von Anfang an. Doch wer durch die schwere, fast schon abweisende Eingangstür tritt, landet nicht etwa in einem verrauchten Speak-easy, sondern in einem der besten Restaurants der katalanischen Metropole.

Acht Jahre zurück: 2011 schloss Ferran Adrià sein berühmtes ElBulli, in dem er die moderne Küchenkunst auf ein neues Level gehoben und damit weltweit für Furore gesorgt hatte. Im gleichen Jahr eröffnete sein Bruder Albert – langjähriger und kongenialer Mitstreier im ElBulli – in Barcelonas Avenida Paralelo eine Cocktailbar namens 41°, deren zunächst auf Snacks

konzentriertes Food-Angebot schnell  zu einem vollständigen gastronomischen Erlebnis auf höchstem kulinarischen Niveau, der ’41° Experience‘, erweitert wurde. 19 Mitarbeiter umsorgten hier ein Maximum von 16 Gästen!

Höchste Küchenkunst und außergewöhnliche Gastfreundschaft: Oliver Pena, Cristina Losada, Albert Adrià und Marc Alvarez zelebrieren im Enigma ein Restauranterlebnis der besonderen Art. Fotos: Pepo Segura.

2013 erhielt das Konzept einen Michelin-Stern, 2014 einen Platz im Ranking der 100 besten Restaurants der Welt. Im gleichen Jahr, buchstäblich auf dem Höhepunkt des Ruhms, dann das überraschende (vorläufige) Aus für 41°. Die Kapazitäten für ein Konzept mit einem solchen Anspruch an eben jenem Standort einfach nicht reichten.

Dialog zwischen Food und Getränken

Doch der ‚Embryo‘, wie Adrià das 41° heute nennt, lebte weiter. Zumindest in seinem Kopf, wo die Philosophie des ausgefeilten Dialogs zwischen Food und Getränken, zwischen Gast und Koch sich weiter entwickelte und schließlich im Januar 2017  im Enigma wiedergeboren wurde – nur wenige hundert Meter von der ursprünglichen Bar entfernt und endlich mit genügend Platz auf 700 qm!

Kulinarische Reise

Wie der Name vermuten lässt, ist ein Abend im Enigma eine kulinarische Reise voller Überraschungen. Was genau die Gäste erwartet, bleibt tatsächlich zunächst ein großes Geheimnis. Von außen lässt der trutzige Bau am Carrer Sepúlveda kaum vermuten, dass sich hinter der Betonfassade überhaupt ein Restaurant verbirgt.

Um das Geheimnis zu bewahren, war es anfangs sogar unerwünscht, dass die Gäste Fotos machen – späteren Besuchern sollte die Überraschung nicht verdorben werden. Bekannt ist: Es werden rund 40 Gänge serviert, zum Festpreis von 220 € – ohne Getränke! Da braucht es für die Buchung, bei der eine Anzahlung von 100 € fällig wird, schon ein bisschen Mut, doch für passionierte Feinschmecker ist der Name Adrià ganz offensichtlich vertrauensbildend genug.

Ätherische Welt

Mysteriös auch das Innere: Wer mit seinem bei der Reservierung erhaltenen persönlichen Zugangscode die klinkenlose Eingangstür überwunden hat, betritt eine ätherische Welt, die an das Innere eines Eisbergs erinnert: Undurchsichtige Glaswände verstellen immer wieder den Blick, auch die Möblierung erscheint in milchigem Weiß, wolkige Stoffe verhüllen die Decke. Das Restaurant ist in verschiedene Parzellen unterteilt, die der Gast im Laufe des Abends durchwandert: Exakt geplante Platzwechsel sind Teil des Erlebnisses. 

Enigma ist Albert Adriàs gastronomischer Traum. 

Überhaupt ist Timing ein wichtiger Faktor: Die maximal 28 Gäste kommen nacheinander und durchlaufen nach einem festgelegten Zeitplan die unterschiedlichen Stationen. Sogar Raucherpausen müssen vorher mit dem Personal abgesprochen werden. „So können wir jede Gästegruppe – egal ob zwei oder acht Personen – individuell und mit der gebührenden Aufmerksamkeit betreuen“, erklärt Küchenchef Oliver Peña. Das pünktliche Erscheinen der Gäste ist dabei von entscheidender Bedeutung. „Das ist für Katalanen manchmal schwierig“, schmunzelt Peña. „Japaner und Deutsche haben aber seltener ein Problem damit.“

Flexible Sitzordnung

Jeden Abend werden der Zeit- und Sitzplan individuell auf die  Reservierungen und Gruppengrößen abgestimmt, um allen ein perfektes Erlebnis zu bieten. „Durch diese Flexibilität können wir das Restaurant jeden Abend voll auslasten und müssen nicht beispielsweise einen Vierertisch mit nur zwei Personen besetzen“, erläutert Peña.

Für den wichtigen ersten Eindruck sorgt ein warmherziger ‚Welcome Act‘ durch Restaurantleiterin Cristina Losada, ein Gegenpol zur auf den ersten Blick kühlen Atmosphäre und essentieller Bestandteil aller Albert Adrià-Konzepte. „Bei der Begrüßung geht es zunächst darum, dass die Gäste sich entspannen, vielleicht noch einmal zur Toilette gehen, sich frisch machen. Wir möchten, dass sie den Alltag und die Welt draußen vergessen“, erklärt Losada.  Jetzt erfahren sie auch, was in den nächsten Stunden auf sie zukommt. „Die wenigsten Gäste wollen die Kontrolle völlig abgeben. Wir müssen sie darüber informieren, was passieren wird, sonst fühlen sie sich nicht wohl.“ 

Unerwartete Aromen

Teil der Begrüßung sind ein Aperitif, zum Beispiel aus fermentiertem Kürbissaft, und korrespondierendes Fingerfood. „Wir beginnen mit einem Aroma, das niemand erwartet. Damit öffnen wir die Geschmacksknospen auf der Zunge“, erläutert Peña. „Die meisten Gäste rechnen mit etwas Süßem. Wir verzichten jedoch so weit wie möglich auf zugesetzten Zucker und spielen lieber mit Säure, das macht die Geschmacksnerven nicht träge, sondern weckt ihre Energie.“

Nach dem ‚Welcome Act‘ geht es für die Gäste weiter in den trotz seiner ebenerdigen Lage ‚La Cava‘ (Der Keller) genannten Bereich, wo etwa fünf der streng saisonal komponierten Gerichte zu passenden Getränken serviert werden. „Alles dreht sich nicht nur um das Essen selbst, sondern ebenso darum, wie man es isst und genießt“, betont Peña. So wird ein Gang schon mal in einer gefrorenen Serviette gereicht. Warum? Weil es beim Auffalten knackt und der Gast sich wie ein Entdecker fühlen soll. „Essen anders zu sich zu nehmen als gewohnt, lässt es auch anders schmecken“, ist Peña überzeugt. Ganz bewusst will Enigma  neugierig machen: „Die Gäste öffnen sich und probieren auch Dinge, die sie eigentlich gar nicht mögen.“ 

Live Cooking bietet Gesprächsstoff

Nach 15 Minuten geleitet das Service-Personal sie freundlich, aber bestimmt in den nächsten ‚Raum‘: la Barra – die Bar, wo sie rund um eine offene Kochstation Platz nehmen, dem Reich von Küchenchef Oliver Peña, der hier vor ihren Augen 

ausgefallene Seafood-Gerichte zaubert. Auf den insgesamt acht Sitzplätzen treffen außerdem einander fremde Gästegruppen aufeinander: So wird die Bar zu einem Ort der Kommunikation der Besucher untereinander und mit dem Koch. Der live erlebte Kochprozess liefert dem Gourmet-Publikum immer viel  Gesprächsstoff.

Auch wenn manche Gäste gerne länger mit  dem jungen Küchenchef plaudern und fachsimpeln würden: Nach einer halben Stunde ist es Zeit für die nächste Station. Um sie zum Platzwechsel zu motivieren, braucht es viel Fingerspitzengefühl, aber schließlich wartet La Plancha – der Grill. Normalerweise nehmen die Gäste die Gerichte vom Grill im ‚Dinner‘-Bereich ein – dem Teil von Enigma, der einem klassischen Restaurant mit mehreren Tischen am ähnlichsten ist. Doch auch direkt am Grill nebenan gibt es einige Plätze, an die kleinere Gruppen zwischendurch eingeladen werden. Nun gibt es Fleisch in vielfältigen Variationen.

Minutiöse Planung

„Wir beginnen mit größeren Portionen und enden mit kleineren Mengen leichterer und auch kalter Gerichte. Schließlich haben die Gäste am Anfang mehr Hunger als am Ende“, erläutert der Küchenchef das Prinzip. Das Finale bilden schließlich mehrere Desserts, sowohl süß als auch herzhaft, aus der nicht einsehbaren Patisserie. Bei aller minutiösen Planung: Jeder Abend im Enigma ist anders. „Alles hängt von unseren Gästen ab“, sagt Peña. „Sind es größere oder kleinere Gruppen, reden sie viel oder wenig, begegnen sie uns vorsichtig oder lassen sie sich voll auf alles ein … obwohl alles vorgegeben scheint, müssen wir ständig individuelle und auf den Gast abgestimmte Entscheidungen treffen.“

ElBarri – das Viertel – heißt das Gastro-Imperium der Adrià-Brüder im Stadtviertel rund um die Avenida Paralelo in Barcelona: Sechs Restaurants im Umkreis eines Radius‘ von nur 500 m. 2006 eröffnete Albert hier die Inopia Classic Bar, eine Bar mit hohem kulinarischen Anspruch und eines der ersten Casual-Konzepte eines Fine-Dining-Kochs in Europa. 2010 schloss Inopia und 2011 begannen die Adrià-Brüder, mit der Familie Iglesias, ebenfalls Schwergewichte in Barcelonas Gastronomie-Szene, zusammenzuarbeiten. Seither hat sich das Viertel zu einer kulinarische Destination ersten Ranges entwickelt. Ohne, dass es geplant war: „Es ging bei ElBarri nicht darum, ein Gourmetviertel zu kreieren, sondern Gelegenheiten und Synergien zu nutzen“, erklärt Albert Adrià. 

Das erste Projekt war 41° – mit der Vision, die Welt anspruchsvoller Snacks mit der Sphäre hochwertiger Cocktails zu verschmelzen. Wenig später folgte direkt neben 41° Tickets, der viel beachtete ‚Nachfolger‘ des berühmten ElBulli. Das Konzept greift die spanische Tapas-Kultur mit zeitgenössischen ebenso wie traditionellen Appetizern auf höchstem kulinarischen Niveau in unprätentiösem Ambiente auf. Durchschnittsbon: 120 €, 1 Michelin-Stern. Nach der Schließung von 41 ° ging die Fläche in Tickets auf: als Dessert-Bar.

Im März 2013 schlug sich Albert Adriàs Bewunderung für die japanische und peruanische Esskultur in der Eröffnung von Pakta nieder. Beide Küchentraditionen werden hier behutsam kombiniert mit einem Hauch von mediterranem Flair und im typischen Adrià-Stil. Sitzplätze 40, Preis für das Tasting-Menü: 135 €. 1 Michelin-Stern (2015).

Das Konzept Bodega 1900, lanciert im Juli 2013, ist eine Hommage an die alte spanische Bodega-Tradition und die vertraute Küche mit Cold Cuts, Eingelegtem und Eintöpfen, natürlich mit saisonalen Zutaten. Das urig eingerichtete Restaurant bietet 145 Sitzplätze, der Durchschnittsbon liegt bei 45 € und darüber. 

Ein Jahr später wuchs die Restaurant-Sammlung erneut: Niño Viejo und das Schwester-Konzept Hoja Santa sind dem Reichtum der mexikanischen Küche gewidmet – dem Street Food und der hohen Kochkunst, immerhin Weltkulturerbe. Niño Verde zählt wochentags rund 80, freitags und samstags 120 Gäste bei einem Durchschnittsbon von 35 €. Im Hoja Santa speisen täglich rund 50 Gäste, am Wochenende 85. Sie bezahlen im Schnitt 150 € inkl. Getränke.

(Bislang) Letzter Zuwachs: Enigma mit 28 Sitzplätzen und eine 40-Gänge-Menü für 220 € pro Person. Seit 2018 Träger eines Michelin-Sterns.  Außerdem betreiben die Adrià-Brüder noch ‚Heart‚, ein Erlebnisrestaurant auf Ibiza, gemeinsam mit dem Cirque du Soleil. Gäste pro Tag: 180, Durchschnittsbon: ab 250 €. www.elbarriadria.com

Wie wichtig ist einerseits das Erlebnis für den Erfolg von Enigma, wie wichtig andererseits das Kochen? „Es geht nur ums Kochen, um den Geschmack“, betont der Küchenchef, der das Konzept gemeinsam mit Abert Adrià entwickelt hat. „Das Erlebnis rundet die erlesene Küche ab. Die große Herausforderung ist es, dass einfach jedes Detail passt.“

Gleichzeitig legt das Team Wert darauf, nicht als Herd-Künstler aus der Distanz bewundert zu werden. „Wir sind normale Leute und möchten so nah wie möglich an unseren Gästen sein.“

Jenseits von Restaurants

Der Journalist Pau Arenós beschrieb Enigma als ‚Post-Restaurant‘-Konzept, also jenseits von dem, was heute unter einem Restaurant verstanden wird. Passt das zur Eigenwahrnehmung? „Das trifft insofern zu, als dass wir weit über das traditionelle Restauranterlebnis hinaus gehen, Dinge anders machen. Wobei anders natürlich nicht immer automatisch für jeden gut ist“, kommentiert Oliver Peña. „Man mag es, oder man mag es nicht.“

Nach rund 3,5 Stunden mündet das Erlebnis in der ideellen Keimzelle des Konzepts: In einen Nachbau mit den Original-Möbeln des ursprünglichen 41° können die Gäste den Abend nach eigenen Wünschen ausklingen lassen. Die Bar hat keinen eigenen Eingang, sodass sie nicht unabhängig von Enigma besucht werden kann. Auf der Karte: eine Handvoll Cocktails sowie für alle Immer-noch-nicht-Satten einige darauf abgestimmte Snacks. „Wir bereiten natürlich jeden erdenklichen Cocktail auf Wunsch zu“, unterstreicht  Bar-Chef Marc Álvarez.

Evolution als Teil des Konzepts

Das Enigma-Team arbeitet ständig daran, die Prozesse und Abläufe zu optimieren. „In den 1,5 Jahren seit der Eröffnung haben wir beinahe alles verändert und auf den Kopf gestellt“, verrät Peña. „Wir sind sehr selbstkritisch, weil das Erlebnis für den Gast perfekt sein soll.“ Jede Änderung, wie zum Beispiel die Umstellung von La Barra von einer Cocktail-Station zu einer Seafood-Bar erfordert eine komplette Überarbeitung des Gesamtablaufs und Zeitplans, aber Evolution ist Teil der Adrià-Philosophie. So können die verschiedenen Bereiche im Winter ganz anders aussehen als im Sommer, Wände werden verschoben, Sitzbereiche verlegt, die Reihenfolge verändert.  „41° war zu klein für diesen perfektionistischen Anspruch, aber hier haben wir keine Ausrede.“ 

Viele mögen es, aber Peña wünscht sich, dass noch mehr Gäste von dem außergewöhnlichen Restaurant, einem von inzwischen sechs Adrià-Konzepten im Viertel rund um die Avenida Paralelo, erfahren. Denn wer nicht gerade am Freitag oder Samstag oder in einer größeren Gruppe (das Maximum liegt bei acht Personen) kommen will, hat nicht zuletzt wegen des flexiblen Reservierungssystems aktuell gute Chancen, auch relativ kurzfristig einen Tisch zu ergattern.

Enigma

Eröffnung      Januar 2017

Plätze 28

ÖZ      Di – Fr 19-23 Uhr, Sa 13-15.30 Uhr, 19-22.30 Uhr

Menü  rd. 40 Gänge für 220 € (plus Getränke)

Mitarbeiter     31 (19 Küche, 9 Service, 3 Bar)

Oliver Pena

Oliver Peña kocht seit 2004 im Adrià-Universum.

Nachdem im ersten Jahr die treuen Adrià-Fans von nah und fern für ein stets volles Haus sorgten, hat der Ansturm im folgenden Jahr etwas nachgelassen, erklärt der Küchenchef, der mit seinem 19-köpfigen Küchenteam 2018 den ersten Michelin-Stern für das Enigma erkocht hat. „Wir haben eher wenige Stammgäste, weil gerade das Unerwartete einen wichtigen Teil der Enigma-Erfahrung ausmacht.“ 

Das Geheimnis lüften … 

Dass Verschwiegenheit und Mystifizierung jedoch auch gefährlich sein können, wenn man immer wieder neue Gäste anlocken muss, beweist folgende Geschichte: „Neulich hatten wir ein Paar zu Gast, die Frau hatte dem Mann ein Dinner geschenkt und ihn raten lassen, in welchem Restaurant“, erzählt Peña. „Erst an 30. Stelle nannte er Enigma! Als wir das hörten, haben wir  verstanden, dass wir noch bekannter werden müssen, damit die Leute beim Namen Adrià nicht nur an ElBulli und Tickets denken“. Und so lautet die Herausforderung für die Zukunft: das Geheimnis um das rätselhafte Restaurant ein wenig zu lüften,  ohne seinen Zauber zu zerstören …  

Dieser Text erschien zuerst in der Fachzeitschrift foodservice, Ausgabe 09/2018.